Weiterhin kein Arabischer Frühling in Ägypten
17. Februar 2021In diesen Wochen jährt sich der Arabische Frühling zum zehnten Mal, der Aufstand der Menschen in den Ländern Nordafrikas gegen ihre Machthaber. Ich hatte im Jahr 2003 für meine Promotion in Theologie ein Semester an der Al-Azhar Universität in Ägypten recherchiert und so vor Ort erlebt, wie die Ägypter in ihrem von Hosni Mubarak regierten Land versuchen zurecht zu kommen. Von daher verfolgte auch ich vor zehn Jahren wie gebannt die Nachrichten, um in Erfahrung zu bringen, wie sich die Revolte entwickeln würde.
Ägypten war nicht nur wegen meiner persönlichen Affinität zu dem Land ein entscheidender Schauplatz des Umbruchs. Obwohl die Proteste in Tunesien ihren Ausgang genommen hatten, richtete sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit schnell auf das größte und bevölkerungsreichste Land in der Region, mit seinen wirtschaftlichen und militärischen Verknüpfungen zu den USA. Ägypten war zudem in dieser Zeit neben Jordanien das einzige Land der Region, das einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hatte. Was auch immer dort geschehen würde, hätte eine Wirkung in die Nachbarschaft.
Die Heimstatt der Muslimbrüder
Ägypten ist auch die Heimstatt der Muslimbrüder, einer 1928 gegründeten islamistischen Organisation, die es seit ihrem Bestehen darauf abgesehen hat, ihrer Version des Islam in Staat und Gesellschaft durchzusetzen und dabei auch vor Gewalt und Terror nicht zurück schreckt. In Ägypten war die Partei aufgrund ihrer Ideologie lange Zeit verboten, auch unter Hosni Mubarak, dessen Herrschaft durch die Revolution endete. Seine Nomenklatura hinterließ den Revolutionären ein heruntergekommenes Land, was den Muslimbrüdern einen guten Start bei der ersten Wahl 2012 verschaffte und mit dem Sieg die Regierungsverantwortung einbrachte. Obwohl das Land durch eine heftige Wirtschaftskrise ging, bestand Mohammed Mursis politische Priorität darin, das Verbot der Genitalverstümmelung von Mädchen aufzuheben. Präsident Mursis Ägide war nur von kurzer Dauer, nach nur einem Jahr putschte ihn das Militär aus dem Amt.
Die Muslimbrüder sind seitdem in Ägypten nicht mehr wohl gelitten, auch große Teile der Bevölkerung entzogen ihnen das Vertrauen. Das hindert die Organisation allerdings nicht, weiter ihre Ziele voranzutreiben - in der Region, aber auch weit darüber hinaus. So ist die radikale Hamas, die das Existenzrecht Israels leugnet, ein Spross der ägyptischen Islamisten. Der türkische Machthaber Erdogan gilt als Freund und Sympathisant der Gruppe. In der jüngeren Vergangenheit wurde der kleine Golfstaat Katar zu einem Sammelbecken für Muslimbrüder, auch für jene, denen Ägypten ein zu heißes Pflaster geworden ist. Das Land am Nil gehörte deshalb zu den Ländern (gemeinsam mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und mit Bahrain), die 2017 über Nacht einen radikalen Politikwechsel vollzogen und die Grenzen zu Katar und ihren Luftraum für Flugzeuge aus dem Emirat sperrten. Zudem sollte das Land durch wirtschaftliche Sanktionen trocken gelegt werden. Der Türkei, die eine Militärbasis in Katar unterhält, nutzte diese Isolation: Sie konnte das Land, mit dem es eine gemeinsame Zuneigung für die Muslimbrüder verbindet, enger an sich binden.
Ein neuer Drehpunkt islamistischen Terrors?
Kurz vor dem zehnten Jahrestag des Arabischen Frühlings gaben die Länder ihre Blockade auf und normalisierten ihr Verhältnis zueinander. Das ist allerdings bei weitem kein Anzeichen dafür, dass die Region einen Schritt weiter vorangekommen wäre auf einem Weg in eine friedliche Zukunft. Die Gemengelage bleibt kompliziert, neben den radikalen Muslimbrüdern und der Hamas ist da auch noch der Iran, der sich eine Grenze mit Katar und ein riesiges Erdgasfeld mit dem Land teilt. Die Angst, dass sich Katar aufgrund dieser Verbindungen zu einem neuen Drehpunkt islamistischen Terrors werden würde, war daher nicht ganz unbegründet. Katar musste keine der 2017 genannten Bedingungen erfüllen, um eine Normalisierung der Beziehungen zu erreichen, auch nicht die Aufgabe der Unterstützung für die Muslimbrüder.
Für die Türkei mag die Versöhnung am Golf ein außenpolitischer Rückschlag bedeuten. Recep Tayyip Erdogan sieht sein Land als den Nachfahren des Osmanischen Reiches und somit als eine Art Schutzmacht der gesamten Region. Selbst ein Islamist, spielt die Religion für sein Weltbild, seine Politik und die Allianzen, die er eingeht, eine wichtige Rolle. Die Konflikte, die radikale religiöse Gruppen wie die Muslimbrüder schüren mit Hilfe der Unterstützung, die sie von Akteuren wie Katar oder der Türkei erhalten, machen allerdings nicht halt an den Grenzen der islamischen Welt: In Deutschland haben sie vor allem Verbindungen in den Zentralrate der Muslime. Die Idee und Ziele der Muslimbrüder sind, so sagen es die Berichte der Verfassungschutzorgane, nicht mit der Werte- und Gesellschaftsordnung eines freien Landes wie der Bundesrepublik Deutschland vereinbar.
Erschwertes Zusammenleben über Religionsgrenzen hinweg
Solange Gruppen wie die Muslimbrüder aktiv sind, wird das Zusammenleben von Menschen über Religionsgrenzen hinweg erschwert. In ihrem Fahrwasser werden beispielsweise Fragen diskutiert, ob Muslime Christen frohe Weihnachten wünschen dürfen oder nicht. Diese Frage beantwortete die oberste islamische Autorität an der Al-Azhar Moschee in Kairo, an deren deutschsprachigen Fakultät ich 2003 als Gast eingeschrieben war, mit einem Ja.
In Ägypten leben viele Millionen Christen, die immer wieder von Radikalen verfolgt und bisweilen sogar getötet werden. Die Ägypter teilen deren Ansichten nicht, das Land blickt gerne auf seine Jahrtausende alte Kultur zurück und sieht sie als Klammer, die stärker wirkt als der Religionsunterschied von Christen und Muslimen. Trotz solcher Bemühungen gibt es für die Region auch im elften Jahr nach der Arabellion keine Aussicht auf dauerhaften, nachhaltigen Frieden, solange Gruppen wie die Muslimbrüder Keile in die Gesellschaft treiben.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hong Kong.