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Reise

Günter Grass und Kalkutta

27. Juli 2017

Sein Leben lang fühlte sich Schriftsteller Günter Grass der Stadt, heute Kolkata genannt, in einer Art Hassliebe verbunden. Dieses Jahr wäre der Literaturnobelpreisträger am 16. Oktober 90 Jahre alt geworden.

Indien Jaintempel in Kalkutta
Pareshnath Jain TempelBild: picture alliance/dpa/akg-images/A.F.Kersting

Das "Indian Coffee House" in Kalkutta (heute Kolkata) ist eine Institution unter den Studenten der Stadt in Indiens Nordosten. Draußen die so genannte College Street, auf der Händler zu Hunderten Bücher und Schreibmaterial verkaufen.Drinnen ein großer Raum mit einer Galerie, wo die Gäste wie auf einem Balkon sitzen können. Die Deckenventilatoren helfen nur notdürftig gegen die sommerliche Schwüle. Ein Kaffee kostet rund 25 Cent, ein Hauptgericht noch nicht mal einen Euro. Vor mehr als 30 Jahren war dies einer der Orte, die der Schriftsteller Günter Grass mit der indischen Stadt verband, die ihn sehr geprägt hat. "Als wir 1986 zum ersten mal hierhin kamen, erkannten ihn einige Studenten", erzählt Subhoranjan Dasgupta. Der indische Journalist war einer der Wegbegleiter von Grass, als dieser sechs Monate lang in der indischen Metropole lebte. "Er musste gleich mehrere Autogramme geben." In keiner indischen Stadt verbrachte Grass mehr Zeit als in Kalkutta. Das erste Mal war er 1975 als Staatsgast zu Besuch und wohnte in der Residenz des Gouverneurs. Dort schrieb er Teile von "Der Butt" - und entwickelte sein ambivalentes Verhältnis zu Kalkutta, das wie kaum eine andere Stadt für den Gegensatz zwischen prunkvollem britischen Kolonialismus und aktueller Armut steht.

Das Victoria Memorial ist ein Denkmal für Königin Victoria von Großbritannien (1840 - 1901)Bild: picture alliance/dpa/DUMONT Bildarchiv
Gastraum im Indian Coffee HouseBild: picture alliance/dpa/S. Mauer
Schriftsteller Günter Grass (1927 - 2015)Bild: picture-alliance/dpa/Gambarini

Schönheit zwischen Slums und Palästen

Bis 1912 war Kalkutta der Mittelpunkt des britischen Imperiums in Südasien. Der koloniale Name Kalkutta/Calcutta wurde erst 2001 offiziell abgeschafft. Das Stadtbild ist geprägt von prunkvollen Bauten wie dem Victoria Memorial, aber auch von Slums und verwinkelten Gassen mit halb verfallenen Häusern. Immer wieder thematisierte Grass in Interviews diese Gegensätze, kritisierte die Gleichgültigkeit der Oberschicht. Und immer wieder sprach er seine Bewunderung für die einfachen Einwohner der Stadt aus, etwa dafür, wie sie ihre Behausungen selbst im elendsten Slum sauber und in Ordnung halten. In "Der Butt" schrieb er über Kalkutta: "Diese bröckelnde, schorfige, wimmelnde, ihren eigenen Kot fressende Stadt, hat sich zur Heiterkeit entschlossen. Sie will, dass ihr Elend schrecklich schön ist."

Buch- und Schreibwarenhändler in der College StreetBild: picture alliance/dpa/S. Mauer

Seinen wichtigsten Besuch machte er elf Jahre später, als er 1986 und 1987 mit seiner Frau für fast sechs Monate nach Kalkutta zog. Diesmal war er nicht in einem Palast, sondern in einem Vorort und später in einem Familienhaus inmitten der Stadt untergebracht. Fast täglich streifte er insbesondere durch den Norden Kolkatas, den ältesten Teil der Stadt, in dem Prunk und Elend am engsten beieinander liegen. Mit überfüllten Vorortzügen pflegte er in die Stadt zu pendeln.
Im Stadtteil Kumartuli endlich findet sich die hundertfache Erklärung für den Titel von Grass' Kalkutta-Tagebuch von 1988, "Zunge zeigen". In unzähligen kleinen Werkstätten stehen Tonfiguren der verschiedenen indischen Gottheiten. Am häufigsten taucht die Göttin Kali auf. Fast immer werden Kali-Statuen mit weit herausgestreckter Zunge dargestellt. Die Göttin nimmt im Hinduismus eine herausragende Position ein, sie steht für Zerstörung und Erneuerung gleichermaßen. Grass verbrachte viel Zeit in Kumartuli. Man könne Kalkutta nur wirklich kennenlernen, wenn man die Hauptstraßen verlasse und die tausend kleinen Gassen besuche, sagte der Autor in einem Interview von 1986.

Bild: picture alliance/dpa/S. Mauer
Bild: picture alliance/dpa/S. Mauer

Kultur als faszinierendes Spektakel

Auch heute noch arbeiten in den schmalen Gassen Männer jeden Alters an den Figuren, bauen Stroh-Skelette oder schnitzen mit feinen Werkzeugen Muster in den Ton. Es sind noch viele Wochen bis zum Fest Diwali im Oktober, zu dem die Statuen feierlich im heiligen Ganges versenkt werden. Die Nachfrage wird groß sein, schon jetzt stehen an jeder Ecke zahlreiche halbfertige Statuen herum.
"Günter Grass verbrachte Diwali im Jahr 1986 im Haus meiner Schwiegereltern", erzählt der Maler Shuvaprasanna. Dort sei Grass bei seinem zweiten und längsten Besuch in Kalkutta hingezogen, nachdem die tägliche Fahrt mit den vollgestopften Vorortzügen zu belastend geworden sei. Während der Diwali-Feier sei Grass fasziniert gewesen von dem Spektakel um die Statuen.

Diwali-Fest in KolkataBild: picture alliance/dpa/Photoshot

Heute betreibt Shuvaprasanna das großflächige Museum "Arts Acre" kurz vor der Stadtgrenze von Kolkata. Am Eingang ist ein von Grass eingeweihter Grundstein zu sehen, der zum 1987 eröffneten Vorläufer des Museums gehört. In der Eingangshalle hängt ein Schwarzweißfoto der Einweihung, auf dem Grass auf einem Podium zu sehen ist. Im Museum selbst ein von Shuvaprasanna gezeichnetes Bild: Grass mit einer Trommel, dahinter zwei fast gesichtslose indische Kinder. Der Titel: Auf der Suche nach Oskar in Kalkutta.

Stefan Mauer (dpa)

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