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Musik

G20-Konzert: Friede, Freude, Provokation

Rick Fulker
7. Juli 2017

Angela Merkel hat sich für ihre G20-Gäste in der Hamburger Elbphilharmonie Beethovens Neunte Sinfonie gewünscht. Ob Trump und Co. auf den Subtext achten?

Deutschland Hamburg - G20 - Konzert in der Elbphilharmonie
Bild: Reuters/W. Rattay

Konzert in der Elbphilharmonie

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Nach zähen Verhandlungen und Straßenschlachten um den G20-Gipfel in Hamburg, gönnen sich Trump, Putin, Merkel, Macron, May, Modi, Abe und circa 2.000 weitere geladene Gäste am Freitagabend eine Auszeit in der Elbphilharmonie. Dort wird der erste Tag des Treffens der Staats- und Regierungschefs der mächtigsten Industrie- und Schwellenländer in Hamburg im Großen Saal ausklingen. Dann erhebt der Amerikaner Kent Nagano den Taktstock, um das Philharmonische Staatsorchester Hamburg zu dirigieren. Auf dem Programm steht ein einziges Werk: die Sinfonie Nr. 9 Opus 125 von Ludwig van Beethoven. Die Gastgeberin des Gipfels, Bundeskanzlerin Angela Merkel, soll es sich so gewünscht haben.

Die Limousine von Donald Trump trifft an der Elbphilharmonie einBild: Getty Images/AFP/P. Stollarz

Über das Werk, das circa 70 Minuten dauert, wurde viel gesagt und geschrieben - sogar bereits im Jahr 1901, als der französische Komponist Claude Debussy anmerkte: "Man hat die Neunte Symphonie in einen Nebel von hohen Worten und schmückenden Beiworten gehüllt. Sie ist das Meisterwerk, über das am meisten Unsinn verbreitet wurde. Man muss sich nur wundern, dass es unter dem Wust von Geschreibe, den es hervorgerufen hat, nicht schon längst begraben liegt."

Der Musikautor Nicholas Cook stimmte zu: "Von allen Werken im Mainstream-Repertoire der abendländischen Musik scheint die Neunte Sinfonie am meisten wie ein Gebilde von Spiegeln, die die Werke, Hoffnungen und Ängsten derjenigen, die sie zu verstehen und zu erklären versuchen, widerspiegeln und brechen." 1999 erschien sogar ein ganzes Buch zum Thema. In "Beethovens Neunte - eine Biographie" dokumentiert Esteban Buch die vielen Anwendungen und Missbräuche, Konzepte und Missverständnisse des Werks.

Triumph für einen tauben Komponisten

Zunächst ein Rückblick: Nach der Uraufführung am 7. Mai 1824 schrieb ein Violinist im Orchester namens Joseph Michael Böhm: "Beethoven dirigierte selbst, d.h. er stand vor einem Dirigentenpulte und fuhr wie ein Wahnsinneiger hin und her. Er schlug mit Händen und Füssen herum als wollte er allein die sämtlichen Instrumente spielen, den ganzen Chor singen - Die eigentliche Leistung war in (Kapellmeister) Durpots Hand, wir Musiker sahen bloß auf dessen Taktstock." Der taube Komponist bemerkte nicht, dass die Aufführung zu Ende war und dirigierte weiter - bis eine Sängerin ihn sanft umdrehte, damit er das jubelnde Publikum sehen konnte.

Bild: picture-alliance/Leemage/L. Ricciarini

Das Chorfinale war eine deutliche Abkehr im sinfonischen Schreiben, dennoch war das Werk beim Publikum ein Erfolg. Kritiker dagegen zweifelten nicht nur an Beethovens Hörvermögen, sondern auch an seiner Verstand. Sogar Giuseppe Verdi kritisierte Beethovens Kunst: "Es wird ein leichtes sein, so schlecht für die menschliche Stimme zu komponieren als hier im letzten Satz", schrieb der italienische Opernkomponist 1878. Mehr als ein Jahrhundert danach spottete der Dirigent Gustav Leonhardt: "Diese 'Ode an die Freude' Welch vulgäres Stück! Und der Text! Vollkommen kindisch!"

Jeder hört darin, was er hören will

Bereits in seiner Jugend hat Beethoven sich für das Gedicht "An die Freude" von Friedrich Schiller interessiert, das er später in seiner berühmten Sinfonie vertonen sollte. Als der Chor bei der Uraufführung "Alle Menschen werden Brüder" sang, muss der Satz für viele Ältere im Publikum hohl geklungen haben. Sie - wie Beethoven - waren in ihrer Jugend von den Idealen der Französischen Revolution begeistert, später auch von Napoleon Bonaparte. Sie mussten dann aber beobachten, wie eben dieser Franzose ganz Europa mit Krieg überzog. Nationen wurden zu Monarchien. Beethovens Neunte Sinfonie ist sogar einem König gewidmet: Friedrich Wilhelm III. von Preußen.

Durch das Chorfinale wurde Beethovens Neunte später zur Projektionsfläche für Ideologien jeder Art. Karl Marx beschrieb die Sinfonie als eine "Missa solemnis irdischer Weltfreude" und für Richard Wagner war sie ein "Schrei universeller Menschenliebe." Es war das einzige Werk, dessen Aufführung Wagner in seinem Festspielhaus in Bayreuth autorisierte.

Josef Stalin hielt sie für "die richtige Musik für die Massen". In Deutschland musste das Werk als Durchhaltestück in den letzten, hoffnungslosen Monaten des Zweiten Weltkriegs herhalten: Auf Anordnung von Joseph Goebbels tönte es wiederholt aus den Volksempfängern. Aufführungen der Sinfonie am Geburtstag von Adolf Hitler waren Ritual und Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz mussten die Melodie des vierten Satzes singen. Das Apartheid-Regime im damaligen Rhodesien erklärte die Melodie zur Nationalhymne und Anno 1988 sangen sie Demonstranten in Chile nach der Absetzung des Diktators Augusto Pinochet.

Beethovens belastbare Sinfonie

Demonstrierende versuchten, zur abgesperrten Elbphilharmonie vorzudringenBild: Reuters/F. Bimmer

Als erste Partitur der Musikgeschichte erhielt die Urschrift von Beethovens Neunter Sinfonie die UNESCO-Auszeichnung "Weltkulturerbe". 1972 wählte der Europäische Rat die Hauptmelodie zur Europahymne; 1985 wurde sie dann zur Hymne der Europäischen Union. In der offiziellen Erklärung hieß es, sie drucke "die europäischen Werte von Freiheit, Frieden und Solidarität" aus. Ob die Macher des Videospiels "Civilization II" in den 1990er Jahren dieselben Werte im Sinne hatten, als sie die Melodie ins Spiel integrierten, ist unbekannt. Die Sinfonie ist aber reichlich in anderen Medien vertreten. In den 1960er Jahren war der zweite Satz (Scherzo) Erkennungsmelodie der "NBC Nightly News" in den USA und Fragmente des Werks tauchen auf in Filmen wie "Help!" von den Beatles im Jahr 1965, Stanley Kubricks "Uhrwerk Orange" im Jahr 1971 und dem Actionfilm "Stirb langsam" mit Bruce Willis aus dem Jahr 1988.

Ende der 1980er Jahre kam ein neuer Tonträger, die CD, auf den Markt. Davor mussten sich die Firmen Sony und Philips über Formatfragen einigen. Wie es heißt, ließen sie sich von Herbert von Karajan beraten. Der damalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker war der Meinung, auf der neuen Scheibe solle sich Beethovens Neunte Sinfonie ohne Unterbrechung abspielen lassen. Eine Aufnahme, die Karajans Vorgänger Wilhelm Furtwängler dirigiert hatte, wurde zugrunde gelegt: So legte man die Speicherkapazität von CDs für alle Zeiten bei 73 Minuten fest.

1918 begann außerdem die Arbeiterbewegung in Deutschland mit einer quasi heiligen Tradition, die mit der Sinfonie in Verbindung steht: Beethovens Neunte wurde am Silvesterabend aufgeführt. Die Tradition wurde während der Nazizeit fortgeführt, danach in den beiden Staaten der geteilten Nation. Heute wird die Sinfonie hundertfach am Silvesterabend gespielt - nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch allein in Japan dutzende Male.

Im Rampenlicht: die Staatsphilharmonie Hamburg und ihr Chefdirigent Kent NaganoBild: Felix Broede

Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 eilte der amerikanische Dirigent Leonard Bernstein nach Berlin, um eine Aufführung der Neunten Sinfonie am Brandenburger Tor zu dirigieren. Um den historischen Meilenstein zu markieren, änderte er ein Wort im Schlusschor. Puristen waren beleidigt, dafür jubilierten Hörer, als es statt "Freude schöner Götterfunken" nun "Freiheit schöner Götterfunken" hieß.

Und die Worte…

"Seid umschlungen, Millionen. Dieser Kuss der ganzen Welt": Diese Affirmation erklingt zusammen mit Hinweisen auf den Wein, auf die Natur, den Gott der Liebe, auf Feier und Freude. Ein Bacchanal verbunden mit Religiosität und Heroismus - und die zentrale Botschaft: "Alle Menschen werden Brüder" - all' das steckt darin. Dennoch wird selbst hier das Bild einer Weltgemeinschaft leicht getrübt. Es gibt nämlich ein Ausschlusskriterium:

"Ja - wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wers nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!"

An dieser Stelle reduziert Beethoven die Lautstärke, schreibt "Decrescendo" in die Partitur. Es ist ein Moment des kurzen Zweifels im ansonsten eher lauten Klanggebilde.

Diese utopische Weltgemeinschaft ist also ein inklusiver - aber auch ein exklusiver Club. Bezogen auf die G20: Alleingänge, Protektionismus oder gar "America first!" wären hier also fehl am Platz.

Oder ist das nur eine mögliche Deutung unter vielen? Gewiss. Und ob die Staats- und Regierungschefs die Botschaft verstehen und danach handeln - oder ob sie sie, vielleicht jeder für sich, ganz anders deuten oder gar verschlafen - auch das gehört zur musikalischen Kunst. Sie kann etwas vermitteln, muss es aber nicht. 

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