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PolitikChile

Gabriel Boric: Chiles Demokratie noch "im Aufbau"

Diego Zuniga
11. September 2023

In einem Exklusiv-Interview mit der Deutschen Welle spricht Chiles Präsident über den Putsch vor 50 Jahren - und die heutige Polarisierung in dem südamerikanischen Land.

Frankreich I Der chilenische Präsident Gabriel Boric
Der linksgerichtete chilenische Präsident Gabriel Boric im Juli 2023Bild: Christophe Ena/AP/picture alliance

"Für mich ist Politik keine Rechenaufgabe", so Chiles Präsident Gabriel Boric im exklusiven Gespräch mit der DW. "Um stärker zu werden und um für sich selbst sorgen zu können, muss Demokratie (...) auf die Bedürfnisse unserer Bürger reagieren können."

"Wenn man das Amt des Präsidenten übernimmt, muss man sich in bestimmten Bereichen anpassen. Ich vertrete sowohl diejenigen, die mich gewählt haben, als auch diejenigen, die mich nicht gewählt haben", erklärt Boric sein Amtsverständnis anlässlich des 50. Jahrestages des chilenischen Staatsstreichs von 1973. 

"Aber meine Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, nach sozialem Wandel, nach Fortschritten in Richtung einer gerechteren Verteilung des Reichtums, in Richtung eines vollständigen Endes der Diskriminierung von Frauen und der sexuellen Vielfalt, in Richtung einer gerechten und ganzheitlichen Entwicklung ist ungebrochen", sagt der 37-Jährige. Er bleibe "ein Mensch mit linken Überzeugungen".

Rehabilitierung von Allende

Gabriel Boric ist nicht nur das jüngste Staatsoberhaupt, das Chile je hatte, sondern vor allem das am stärksten linksgerichtete des vergangenen halben Jahrhunderts. Entsprechend spielt bei den Aktivitäten zum 50. Jahrestag des Putsches die Rehabilitierung des ehemaligen Präsidenten Salvador Allende eine besondere Rolle.

Der Militärputsch am 11. September 1973 hatte Allendes demokratisch gewählte Koalition die Macht gekostet und den sozialistischen Politiker selbst das Leben. Während der darauffolgenden Diktatur unter General Augusto Pinochet wurden tausende Oppositionelle getötet, gefoltert oder inhaftiert. Erst 1990 kehrte Chile zur Demokratie zurück.

Wenn er die Gelegenheit bekäme, sagt Boric, würde er Allende sagen, "dass wir hart daran arbeiten, in seine Fußstapfen zu treten". In Anlehnung an dessen berühmte Rede vom Tag des Putsches erklärt Boric, er hoffe, "dass wir bald erneut breite Straßen auftun, auf denen freie Männer und Frauen gemeinsam dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengehen".

Ähnliche Worte hatte Salvador Allende gebraucht, als er sich gegen 11 Uhr morgens über Radio das letzte Mal an die chilenische Bevölkerung wandte - kurz darauf wurde der Präsidentenpalast angegriffen. Allende, der einen Rücktritt abgelehnt hatte, tötete sich nach Angaben der Militärs selbst mit einer Kugel.

50 Jahre Putsch in Chile

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Demokratie pflegen 

Der Putsch durch Pinochet spaltet die chilenische Gesellschaft noch immer. Das zeigte sich etwa vergangenes Jahr an der Weigerung der rechten und Mitte-Rechts-Parteien, einen Demokratie-Pakt zu unterzeichnen. "Es bereitet mir Sorge, dass viele rechte Führungspersönlichkeiten auf der Idee beharren, dass es ohne Allende keinen Pinochet gegeben hätte", sagt Boric. "Wenn man bedenkt, was das bedeutet, ist das sehr beunruhigend. Nämlich: Sollte es eine weitere verfassungsmäßige Regierung geben, die ihnen nicht gefällt, und ein Klima der Polarisierung sowie politischen Schwierigkeiten, dann könnte die Antwort erneut ein Staatsstreich und eine Diktatur sein."

Positiv sei jedoch, dass alle noch lebenden Ex-Präsidenten Chiles, einschließlich des Mitte-Rechts-Politikers Sebastian Pinera, diesem Pakt kurz vor dem 50. Jahrestag des Putsches beigetreten sind, so Boric. Sie verpflichten sich darin, trotz politischer Unterschiede die Demokratie zu pflegen und zu verteidigen sowie Verfassung und Rechtsstaatlichkeit zu achten.

Kein neuerlicher Putsch in Sicht

"Meiner Meinung nach ist die Demokratie ein Selbstzweck und wir müssen sie ständig hegen und pflegen", legt der amtierende Präsident seinen Standpunkt dar. "Die Kunst der Politik, die Kunst einer fairen Politik, besteht darin, sich mit Andersdenkenden zu einigen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. "Er glaube nicht, dass sich die Ereignisse vom September 1973 in Chile wiederholen könnten, so Boric weiter.

Er verweist auf die jüngsten Fortschritte, die Chile etwa bei den Bergbaugebühren oder bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden gemacht habe. Bislang nicht vorangekommen ist dagegen unter anderem die lang erwartete Reform des privatisierten Rentensystems.

Demokratien "nie vollständig konsolidiert"

Insgesamt zeigt sich Boric von der Stärke der chilenischen Demokratie und ihrer Institutionen überzeugt. "Die chilenische Demokratie ist eine Demokratie, die sich noch im Aufbau befindet. Ich würde nicht sagen, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem Demokratien vollständig gefestigt sind. Denn Gesellschaften verändern sich und mit dem Wandel kommen neue Herausforderungen", sagt er.

So werde etwa die alte Idee vom Wachstum um jeden Preis heute nicht nur in Frage gestellt, sondern sogar als etwas angesehen, das das Überleben der Menschheit gefährden könnte. "Die Demokratien perfektionieren sich also ständig", sagt er.

Ähnlich wie in Chile brachte die Angst vor dem Kommunismus während des Kalten Kriegs auch in anderen lateinamerikanischen Ländern Militärregime hervor. Dennoch zeigt sich Boric optimistisch:  "Menschen können ermordet, Kameraden gefoltert werden. Aber die Würde der Gefallenen und derjenigen, die für ein freies Land kämpfen, überwiegt am Ende immer." Das gelte für die Geschichte Chiles wie auch Argentiniens, Uruguays, Brasiliens und so vieler anderer lateinamerikanischer und weltweiter Diktaturen.

USA legen Rolle beim Putsch von 1973 offen

Boric, der seine vierjährige Amtszeit 2022 nach einem erdrutschartigen Wahlsieg über den ultrakonservativen Jose Antonio Kast antrat, hat sich auf der internationalen Bühne durch die Verurteilung auch linker Diktaturen in der Region hervorgetan.

"Ich bin davon überzeugt, dass wir in Bezug auf die Menschenrechte einen einheitlichen Standard haben müssen." Man könne sich nicht aussuchen, welche Autokratien man möge und welche nicht, ist er überzeugt.

Boric begrüßt, dass die USA mittlerweile Dokumente freigegeben haben, die die nicht unerhebliche Rolle der Weltmacht beim Putsch von 1973 belegen. "Ich glaube, dass die Position der Vereinigten Staaten heute klar ist, wenn es um die Verurteilung der Geschehnisse geht", so Chiles Präsident.

"Aber wir können immer noch mehr tun. Die Regierung Nixon hat damals alle möglichen Anstrengungen unternommen - und das ist alles dokumentiert -, um zunächst den Amtsantritt von Präsident Allende zu verhindern und dann die chaotischen Bedingungen zu schaffen, die den Staatsstreich ermöglichten."

Chiles Präsident Gabriel Boric und Bundeskanzler Olaf Scholz beim Gipfeltreffen EU-CELAC im JuliBild: Geert Vanden Wijngaert/AP/picture alliance

Boric fügt hinzu, dass er alle Informationen über die angebliche Zusammenarbeit des deutschen Geheimdienstes mit der Pinochet-Diktatur und auch über die deutsche Sekte Colonia Dignidad, die mit dem Regime zusammenarbeitete, anfordern werde.

"Ich habe darüber mit Bundeskanzler Scholz bei den wenigen Treffen gesprochen, die ich mit ihm hatte. Nach dem, was ich gesehen habe, denke ich, dass er sehr daran interessiert ist, bei allem mitzuarbeiten, was mit der Untersuchung und Anerkennung der Ereignisse in der Colonia Dignidad zusammenhängt." Er werde weiter "für die Wahrheit und für Gerechtigkeit" kämpfen.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Spanisch verfasst.

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