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Politik

Der Tag, als sich die Mauer öffnete

Horst Teltschik
8. November 2019

Ausgerechnet am 9. November 1989 hatte Helmut Kohl einen Staatsbesuch in Polen begonnen. Als er dann in Berlin eintrifft, wurde er zunächst ausgepfiffen. Der damalige Kanzler-Berater Horst Teltschik erinnert sich.

Audioslideshow Helmut Kohl Mauerfall 1989
Bild: picture-alliance/dpa

Am 9. November 1989 prallten zwei Ereignisse aufeinander, die beide für sich von historischer Bedeutung waren: Mittags war Bundeskanzler Helmut Kohl mit einer großen Delegation zu einem fünftägigen Besuch in Warschau eingetroffen.

Polen hatte als erstes Mitgliedsland des Warschauer Paktes freie Wahlen abgehalten. Mit dem Sieg der Solidarnosc-Bewegung war Tadeusz Mazowiecki zum ersten demokratischen Premierminister ernannt worden. Und die Sowjetunion hatte militärisch nicht eingegriffen, wie sie das noch unter Leonid Breschnew im August 1968 bei der Niederschlagung des "Prager Frühlings" getan hatte. Michail Gorbatschow hatte Wort gehalten: Bereits 1985 hatte er anlässlich der Trauerfeier zum Tod seines Vorgängers Konstantin Tschernenko seinen Verbündeten angekündigt, dass er sich nicht mehr in ihre inneren Angelegenheiten einmischen werde.

Gorbatschows Versprechen

Gorbatschow löste sein Versprechen auch gegenüber Ungarn ein, das 1989 ein Mehrparteiensystem zuließ, freie Wahlen ankündigte und in vier Schritten seine Grenzen öffnete und zehntausenden DDR-Bürgern die Flucht über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte. Diese Erfahrungen von Polen und Ungarn vermittelten dem Bundeskanzler eine gewisse Sicherheit, dass sich die Sowjetunion auch nicht mehr in die innere Entwicklung der DDR einmischen werde.

Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Mazowiecki schreiten am 9. November 1989 in Warschau die Ehrenformation abBild: picture-alliance/dpa

Bundeskanzler Helmut Kohl war nach Warschau gereist, um die erste demokratische Regierung innerhalb des Warschauer Paktes zu würdigen und die deutsch-polnischen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Für ihn sollten sie das gleiche Gewicht erhalten wie die deutsch-französischen Beziehungen. Aus diesem Grund hatten die geplanten Gespräche in Warschau politisch einen hohen Stellenwert.

Bereits am Nachmittag fanden die ersten Gespräche des Bundeskanzlers mit dem neuen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki und anschließend mit dem Vorsitzenden der Solidarnosc-Bewegung, Lech Walesa, und dem Fraktionsvorsitzenden der Solidarnosc im Sejm, Bronislaw Geremek, statt. Die Ausführungen Walesas sollten im Nachhinein wie eine Weissagung wirken: Die anhaltende, massenhafte Flucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik und die sich ausbreitenden Massendemonstrationen in der DDR seien für ihn der Beginn eines Prozesses, der zur Wiedervereinigung Deutschlands führen werde, so Walesa. Unmittelbar fragte er den Bundeskanzler, was dieser tun wolle, wenn die DDR die Grenze öffnen sollte? Müsste er dann nicht selbst eine Mauer errichten? Walesa war besorgt. Er befürchtete nicht zu Unrecht, dass die Ereignisse in der DDR die Interessen Polens in den Hintergrund drängen könnten. Das sollte sich noch am gleichen Abend bewahrheiten.

Und Berlin öffnete sich die Mauer

DW-Gastautor Horst Teltschik begleitete Bundeskanzler Kohl am 9. und 10. November 1989Bild: picture-alliance/ picturedesk.com/C. Müller

Wenige Stunden später sollte sich nach der Pressekonferenz von Günter Schabowski in Ost-Berlin die Grenzmauer öffnen. Für Helmut Kohl war sofort klar, dass er angesichts dieser Ereignisse seinen Besuch in Polen abbrechen und so schnell als möglich nach Berlin reisen müsse. Er stand vor also der Aufgabe, den polnischen Gastgebern mit viel Fingerspitzengefühl zu erklären, dass er diese Visite unterbrechen müsse. Es gelang ihm mit dem Versprechen, den Besuch einen Tag später fortzusetzen. Und er hat Wort gehalten.

Darüber hinaus galt es noch, ein technisches Problem zu lösen: Ein Direktflug von Warschau nach Berlin mit der Regierungsmaschine der Bundeswehr war damals nicht möglich. Nur Flugzeuge der Alliierten durften Berlin direkt anfliegen. Mit Hilfe des amerikanischen Botschafters in Bonn gelang es, am Nachmittag des 10. November in ein in Hamburg wartendes US-Flugzeug umzusteigen und Berlin noch rechtzeitig zu erreichen. Nach der Landung auf dem Flughafen Tempelhof fuhr die Delegation direkt zum Schöneberger Rathaus. Dort hatten sich bereits einige tausend Berliner eingefunden, die Helmut Kohl mit einem gellenden Pfeifkonzert empfingen. Doch Helmut Kohl zeigte keine Regung. Dagegen wurde Alt-Kanzler Willy Brandt von seinen Anhängern mit tosendem Beifall begrüßt, während der Bundeskanzler während seiner ganzen Rede gnadenlos ausgepfiffen wurde. Helmut Kohl war zudem gezwungen, eine rhetorisch maßvolle Rede zu halten.

Bei der Ansprache vom Balkon des Schöneberger Rathauses wird Helmut Kohl gnadenlos ausgepfiffen. Links Alt-Bundeskanzler Willy Brandt.Bild: picture alliance/AP Images

Während der Rede von Willy Brandt war ich plötzlich ans Telefon gerufen worden. Der sowjetische Botschafter, Julij Kwizinskij, bat mich, dem Bundeskanzler noch vor seiner Rede eine dringende Botschaft von Michail Gorbatschow zu übermitteln: Es müsse jetzt alles verhindert werden, dass ein "Chaos" entstünde. Der Bundeskanzler solle auf die Menschen beruhigend einwirken. Ich zwängte mich auf dem kleinen Balkon des Rathauses durch den Pulk der Redner, um Helmut Kohl die Nachricht zu übermitteln. Dieser rief daraufhin die Teilnehmer der Kundgebung zur Besonnenheit auf. Jetzt gelte es, "mit Bedachtsamkeit Schritt für Schritt den Weg in die gemeinsame Zukunft zu finden". Doch das Pfeifkonzert hielt an.

Jubel für Kohl vom "anderen Berlin"

Dieser aufregende Tag sollte für den Bundeskanzler dennoch sehr beglückend zu Ende gehen. Das "andere Berlin" war an der Gedächtniskirche versammelt und begrüßte Helmut Kohl mit großem Beifall. Nach dieser zweiten Kundgebung forderte Helmut Kohl seinen Fahrer auf, sich von der Eskorte der Berliner Polizei zu lösen und zum Checkpoint Charlie zu fahren. Einige hundert Meter vor dem Kontrollpunkt ließ er anhalten, und wir gingen zu Fuß weiter. Menschenmassen und Trabi-Kolonnen strömten uns entgegen. Kaum wurden die Menschen Helmut Kohl gewahr, umringten sie ihn, fassten ihn an, lachten und weinten zugleich. "Helmut, Helmut"-Rufe tönten durch die Straße. Zurück im Auto stellte der Bundeskanzler, noch tief beeindruckt von der Woge der Sympathie der Ost-Berliner, mit Befriedigung fest: "Hier erlebt man, was die Menschen wirklich denken."

Am Abend des 10. November wurde Helmut Kohl auf dem Kurfürstendamm von Menschen aus Ost- und West-Berlin gefeiertBild: picture alliance/dpa/M. Kainulainen

Dennoch war dem Bundeskanzler bewusst, dass er jetzt keine überhasteten Entscheidungen treffen dürfe. Die Gefahr war zu groß, in dieser Phase sich überstürzender Ereignisse "falsche Signale" zu setzen und die Emotionen weiter anzuheizen. Ost und West würden jetzt genau beobachten, ob die Deutschen aus der Geschichte gelernt hätten. Helmut Kohl hatte jedoch keinen Zweifel, dass "jetzt Weltgeschichte geschrieben werde". Zwar könne niemand einen Zeitpunkt für die deutsche Vereinigung benennen, "aber das Rad der Geschichte dreht sich jetzt schneller".

Gorbatschow: Alles geht jetzt schneller

Am 11. November erfolgte das wichtige Telefongespräch des Bundeskanzlers mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow. Auch dieser wies daraufhin, dass die Veränderungen in Osteuropa nun viel schneller vor sich gingen, als sie beide das bei ihrem jüngsten Zusammentreffen im Juni 1989 in Bonn noch angenommen hätten. Jedes Land müsse sein eigenes Tempo einschlagen. Die DDR benötige jetzt Zeit für ihr weitreichendes Programm der Umgestaltung in Richtung Freiheit, Demokratie und Abkehr von der Planwirtschaft. Alle Seiten müssten jetzt Verantwortungsgefühl und Umsicht erweisen. Es handele sich um historische Veränderungen in Richtung neuer Beziehungen und einer neuen Welt.

Horst Teltschik (links) arbeitete seit 1972 an der Seite von Helmut Kohl (Mitte)Bild: Imago

Doch die offensichtliche Hilflosigkeit der DDR-Führung sowie die anhaltende und wachsende Flut der Übersiedler aus der DDR bewogen den Bundeskanzler, in seiner Regierungserklärung am 28. November im Deutschen Bundestag einen Zehn-Punkte-Plan mit dem erklärten Ziel einer gesamtdeutschen Föderation  vorzulegen. Mit diesem Stufenplan beschrieb Helmut Kohl die Strategie, wie dieses Ziel unter Einbeziehung der DDR, der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und der europäischen Partner erreicht werden könnte. Er enthielt keine Zeitvorgaben, um keinen Druck auf die Partner in Ost und West zu erzeugen. Intern rechneten wir mit einem Prozess von fünf bis zehn Jahren. Am Ende dauerte der Vereinigungsprozess von der Öffnung der Mauer bis zur Deutschen Einheit nur 329 Tage. Er verlief völlig friedlich. Kein einziger Schuss ist gefallen.

Horst Teltschik, Jahrgang 1940, war seit 1972 enger Berater von Helmut Kohl. 1983 wurde er stellvertretender Leiter des Bundeskanzleramtes. 1989/90 war er Sonderbeauftragter für die Verhandlungen mit Polen und darüber hinaus an allen innerdeutschen und internationalen Gesprächen beteiligt, die zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 führten. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz.