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Ungewisse Perspektiven von Arbeit 4.0

Hartmut Hirsch-Kreinsen
25. Oktober 2016

Wie werden wir zukünftig arbeiten? Führt die Digitalisierung zu mehr Arbeitslosigkeit oder wertet sie Arbeit auf? Ein Gastbeitrag von Deutschlands renommiertesten "Industrie 4.0"-Forscher Hartmut Hirsch-Kreinsen.

Arbeit Industrie 4.0
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Unstrittig ist, dass sich mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Technologien in der Arbeitswelt nachhaltige Konsequenzen für industrielle Arbeitsprozesse verbinden werden. In Deutschland wird diese Frage seit 2011 unter dem eingängigen Label "Industrie 4.0" thematisiert. Weitgehend ungewiss ist bislang allerdings, welcher Art diese Konsequenzen für digitalisierte Arbeit, oftmals auch als Arbeit 4.0 bezeichnet, sein werden.

In Hinblick auf die Frage nach den generell möglichen Arbeitsplatzverlusten durch den Einsatz der neuen Technologien werden teilweise sehr weitreichende negative Prognosen formuliert. Aufsehen erregte schon vor einiger Zeit eine Studie über dem amerikanischen Arbeitsmarkt, der zufolge in den kommenden Jahrzehnten fast 50 Prozent aller Berufe von Automatisierung bedroht seien. Differenziertere Analysen gehen indes von wesentlich geringeren Arbeitsplatzverlusten aus. So berechnet das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dass ungefähr 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland einem hohen Substitutionspotenzial durch die neuen Technologien ausgesetzt seien. Gefährdet durch die Digitalisierung sind danach vor allem gering qualifizierte, routinehafte Tätigkeiten.

Furcht vor einer menschenleeren Fabrik ist übertrieben

Demgegenüber finden sich aber auch ausgesprochen optimistische Prognosen, die aufgrund der mit Industrie 4.0 verbundenen Wachstumseffekte längerfristig positive Arbeitsmarkteffekte sehen. Eventuelle kurzfristige Jobverluste werden damit kompensiert. Insgesamt gesehen ist daher die Furcht vor einer menschenleeren Fabrik weit übertrieben.

Hartmut Hirsch-KreinsenBild: privat

Allerdings werden sich auf jeden Fall die Tätigkeiten und Qualifikationen deutlich verändern. Derzeit lassen sich hierzu allerdings kaum endgültige Prognosen formulieren. In Hinblick auf industrielle Tätigkeiten ist von verschiedenen Szenarien der Entwicklung von Qualifikationen auszugehen.

Szenario Eins: Aufwertung von Qualifikationen

Ein erstes Szenario kann als "Upgrading" oder auch Aufwertung von Qualifikationen bezeichnet werden. In dieser Perspektive verschiebt sich das Aufgabenspektrum von Arbeit in Richtung anspruchsvoller Aufgaben wie Planung, Disposition und Systemüberwachung, da einfache Routineaufgaben in zunehmendem Maße automatisiert werden. Damit steigen die Anforderungen an ein arbeitsplatzübergreifendes Verständnis der Arbeitsprozesse sowie an die Fähigkeit, die nun verfügbaren Informationen effektiv zu nutzen. Zudem nehmen nach der Ansicht vieler befragter Unternehmen die Anforderungen an Optimierungs- und Problemlösungskompetenzen sowie an generelle IT-Kompetenzen zu.

Diesem Szenario folgend treffen diese Trends für fast alle Beschäftigtengruppen in der Fertigung, in indirekten Bereichen wie der Arbeitsvorbereitung, der Produktionsplanung. Insbesondere kann auch das Qualifikationsniveau bislang geringqualifizierter Tätigkeiten wie einfache Maschinenbedienung oder Logistikjobs mit der Unterstützung digitalisierter Informations- und Assistenzsysteme qualifiziert und diese Arbeiten ganzheitlicher und anspruchsvoller als bisher gestaltet werden. Zugleich aber ist auch davon auszugehen, dass ein Teil einfacher und vor allem auch belastender Routinetätigkeiten von digitalen Systemen übernommen werden. Typisch ist hier der Einsatz smarter Robotersysteme, mit denen ergonomisch ungünstige und schwere Montagetätigkeiten automatisiert werden. Insgesamt gesehen wird daher auch von einer zukünftigen ‚Requalifizierung‘ von Industriearbeit
unter den Bedingungen von Industrie 4.0 gesprochen.

Mensch oder Maschine? Industrie 4.0 wird die Arbeitswelt nachhaltig verändernBild: picture-alliance/dpa/M. Murat

Szenario Zwei: Die Mitte bricht weg

Ein zweites, gegensätzliches Szenario lässt sich als "Polarisierung" von Qualifikationen beschreiben. Der Kern dieses Szenarios ist, dass mittlere Qualifikationsgruppen wie qualifizierte Facharbeit massiv an Bedeutung verlieren sich daher zunehmend eine Schere zwischen komplexen Tätigkeiten mit hohen Qualifikationsanforderungen einerseits und einfachen Tätigkeiten mit niedrigem Qualifikationsniveau andererseits öffnet. Konkret sind hier die folgenden Mechanismen erkennbar:

  • Einerseits entsteht eine begrenzte Zahl neuer komplexer Tätigkeiten mit gestiegenen Qualifikationsanforderungen. Ein Beispiel hierfür sind neue Planungs- und Überwachungsfunktionen und prozessübergreifende Abstimmungsaufgaben, die zu neuen Tätigkeiten der Systemsteuerung gebündelt werden.
     
  • Andererseits kann durch den Einsatz digitaler Technologien ein Prozess der Dequalifizierung mittlerer Qualifikationsgruppen Platz greifen. Die Gründe hierfür sind optimierte Arbeitsvorgaben, die zu einer Standardisierung und Vereinfachung bislang relativ anspruchsvoller Jobs führen. Beispielsweise kann es sich dabei sowohl um Produktionsarbeiten etwa der Maschinenbedienung aber auch um Verwaltungs- und Sevicetätigkeiten auf mittleren Qualifikationsniveaus handeln.

Mittleren Qualifikationsgruppen kommt in diesem Szenario längerfristig nur noch ein nachgeordneter Stellenwert zu. Auch werden einfache Aufgaben kaum, wie das Upgradingszenario unterstellt, durch Automatisierung und Aufwertung tendenziell verschwinden, vielmehr entstehen durch den Einsatz digitaler Technologien neue einfache Tätigkeiten mit niedrigen Qualifikationsanforderungen.

Flexibilisierung birgt Chancen und Risiken

Unabhängig von Tätigkeiten und Qualifikationsniveau muss allerdings von einer steigenden Flexibilisierung und der Entgrenzung der Arbeit in zeitlicher, organisatorischer und räumlicher Hinsicht ausgegangen werden. Denn die neuen Möglichkeiten einer marktorientierten digitalisierten Echtzeitsteuerung von Arbeitsprozessen im Kontext neuer Unternehmensstrategien und Geschäftsmodelle stellen bisherige fest gefügte Arbeitsstrukturen nachhaltig in Frage.

Wieder mehr Zeit für die Familie dank Arbeit 4.0?Bild: colourbox/S. Darsa

Auf der einen Seite finden sich hier Argumente, die damit eine Steigerung der Qualität der Arbeit verbinden. So würden die Steuerungs- und Kommunikationsmöglichkeiten der digitalen Technologien trotz steigender Flexibilität eine deutlich verbesserte "Work-Life-Balance", etwa eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ermöglichen. Auf der anderen Seite aber werden mögliche Risiken und negative Arbeitsfolgen, zum Beispiel neu entstehende prekäre Arbeitsformen, ein ungeklärter Umgang mit personenbezogenen Leistungsdaten sowie Leistungsverdichtung befürchtet.

Keine klaren Trends

Insgesamt gesehen kann derzeit keinesfalls von eindeutigen Entwicklungstrends von Arbeit gesprochen werden. Es auch zu bezweifeln, dass sich in Zukunft eindeutige Trends abzeichnen werden. Denn eine grundlegende Erkenntnis der Arbeitsforschung ist es, dass zwischen der Einführung neuer Technologien und den Konsequenzen für Arbeit keine eindeutigen und deterministischen Beziehungen gegeben sind. Vielmehr existieren stets große Spielräume für die Arbeitsgestaltung.

Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft bestimmen gemeinsam über die Zukunft der ArbeitBild: picture-alliance/dpa/O. Spata

Anders formuliert: Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 sind als betriebliches und gesellschaftspolitisches Gestaltungsprojekt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungsoptionen zu verstehen. Wie diese Optionen genutzt werden und welche Arbeitsformen sich durchsetzen, ist naturgemäß einerseits abhängig von den strategischen Entscheidungen des Managements und der Betriebsräte der Unternehmen. Andererseits sind aber auch die Wissenschaft, vor allem aber die Sozialpartner und die Politik gefragt. Deren Rolle sollte es unter anderem sein, eine breite Diskussion über eine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Entwicklungsrichtung von Arbeit 4.0 voranzutreiben.

Hartmut Hirsch-Kreinsen war von 1997 bis 2015 Professor für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Technischen Universität Dortmund. Als Vorstandsmitglied des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) in Düsseldorf ist er für den Themenbereich "Digitalisierung von Arbeit/Industrie 4.0" zuständig; zudem ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der nationalen Plattform Industrie 4.0 und der Allianz Wirtschaft und Arbeit in Nordrhein-Westfalen. Hirsch-Kreinsen gehört zu den Herausgebern des Buches "Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen".

 

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