1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Wach auf, Europa!

Christian Schwarz-Schilling
3. Dezember 2021

Separatisten führen Bosnien und Herzegowina in eine Katastrophe. Die Internationale Gemeinschaft muss das stoppen. In dem Westbalkan-Land verteidigt die EU auch ihre eigenen Werte, meint Christian Schwarz-Schilling.

Bosnien Milorad Dodik
Milorad Dodik, das bosnisch-serbische Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums Bosnien und HerzegowinasBild: ELVIS BARUKCIC/AFP via Getty Images

Im vergangenen Jahr um diese Zeit wurde der 25. Jahrestag des Dayton-Friedensabkommens gefeiert, das dem furchtbaren Krieg in Bosnien und Herzegowina ein Ende setzte. Heute ist es umgekehrt: Das Land steht vor einem neuen Krieg, wenn die verantwortungslose Appeasement-Politik fortgesetzt wird.

Damals stoppte die Internationale Gemeinschaft, vor allem die USA, einen Krieg, der durch die selbsternannte Republika Srpska (RS) den Völkermord in Srebrenica hervorbrachte. Ende Juli dieses Jahres führte der scheidende Hohe Repräsentant (HR), der Österreicher Valentin Inzko, eine Erweiterung des Strafgesetzbuches ein, das die Leugnung des Völkermords von Srebrenica und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe stellt.

Dieses Gesetz stieß unter der Führung Milorad Dodiks, des bosnisch-serbischen Vertreters im Staatspräsidium Bosnien und Herzegowinas, in der Republika Srpska prompt auf Ablehnung und widerrechtliche Aktionen. Die bosnischen Serben zogen sich aus den staatlichen Institutionen Bosnien-Herzegowinas zurück und fordern, das sogenannte Inzko-Gesetz zurückzunehmen. Damit blockieren und erpressen sie den Staat Bosnien und Herzegowina. Im Grunde genommen ist es ein Staatsstreich.

Spirale der Abspaltung

Der neue Hohe Repräsentant, der Deutsche Christian Schmidt, wird seit seinem Amtsantritt von den Führern der bosnischen Serben öffentlich beleidigt und in seinem Amt ignoriert. Dabei erhalten sie die Unterstützung von Russland und China, die das Büro des Hohen Repräsentanten (OHR), die höchste Instanz des Dayton-Abkommens für die zivile Implementierung des Friedensvertrags, ohnehin abschaffen wollen.

Die Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosnien und Herzegowinas (unten, von li.) nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens in Paris am 21.11.1995Bild: Gerard Julien/dpa/picture alliance

Die Spirale der Abspaltung der Republika Srpska, das heißt, der Druck und die Erpressung, die Dodik gegenüber dem Staat Bosnien und Herzegowina mit weiteren Handlungen vornimmt, ist bedrohlicher denn je.

Zwei Entscheidungen des Verfassungsgerichts in Bosnien und Herzegowina über das Staatseigentum lehnte das Parlament der Republika Srpska unerlaubt ab. Dodik droht nun seit einigen Wochen, die Republika Srpska aus der staatlichen Armee, der Rechtsprechung und den Steuerinstitutionen herauszulösen und sie damit de facto eigenständig zu machen. Eine Entscheidung dazu soll im Parlament der RS am 10. Dezember gefällt werden. Dass dies gegen den Dayton-Friedensvertrag und die Verfassung von Bosnien und Herzegowina verstößt, interessiert Dodik nicht.

Groß-Serbien-Plan nie aufgegeben

Damit ist allen klar, dass eine "rote Linie" überschritten worden ist. Das Wort Krieg macht nun die Runde.

Die Internationale Gemeinschaft müsste hier sofort starke Sanktionen gegenüber Dodik verhängen, macht das aber nicht. Dodik kann den Staat Bosnien und Herzegowina mit seiner ethno-nationalistischen Ideologie ungehindert zerstören.

Seit zehn Jahren hat sich die Region des Westbalkans mit einem immer dreister agierenden Dodik, der im Hintergrund von Serbiens Präsident Aleksandar Vucic unterstützt wird, zu einem Spielball zwischen den Großmächten entwickelt. Dass Dodik dabei die Unterstützung von Russland und China genießt, hat er vor Kurzem in einem Interview im "Guardian" (29.11.2021) klargestellt.

Milorad Dodik (r.) und Serbiens Präsident Aleksandar Vucic auf einer Konferenz in Budapest zusammen mit Ungarns Premier Viktor Orban sowie Sloweniens Premier Janez Jansa und Tschechiens damaligem Premier Andrej Babis am 23.09.2021Bild: Attila Kisbenedek/AFP

So ist offen ausgesprochen, dass der Plan eines Groß-Serbiens, der in den 1990er-Jahren 2,5 Millionen Flüchtlinge hervorbrachte und 100.000 Menschen das Leben kostete, lebendiger ist denn je. Dabei wird wieder klar, dass die nationalistischen Regierungen Kroatiens und Serbiens nie ganz ihr Ziel aufgegeben haben, Bosnien und Herzegowina unter sich aufzuteilen. Das wird gerade wieder aktiv forciert.

Gemeinsame Sanktionen

Mit Entsetzen sehe ich mich jetzt in die 1990er-Jahre zurückversetzt, in denen die Internationale Gemeinschaft lange tatenlos zusah und es zu einem schrecklichen Krieg kam. Was macht die Internationale Gemeinschaft heute?

Wir wissen, dass Bosnien und Herzegowina seit 2006 von demokratischen Entwicklungen wegdriftet und die Internationale Gemeinschaft hier eine große Verantwortung mitträgt. Sanktionen, wie sie die USA gegen Dodik verhängen, haben geringe Wirkung, wenn die EU, die ebenfalls alle Mechanismen hat, Sanktionen zu verhängen, hier nicht gleichzieht. Das benötigt aber die Zustimmung von mindestens 15 der 27 EU-Länder. Man müsse perspektivisch über eine härtere Gangart nachdenken, schlug Heiko Maas auf der letzten EU-Außenministerkonferenz am 15. November in Brüssel vor und stellte fest: Sanktionen sollten diejenigen treffen, die staatliche Strukturen in Frage stellten und mit Hass versuchten, Menschen gegeneinander aufzuhetzen (TAZ 17.11.2021).

Appeasement-Politik

Aber man hat sich darauf nicht einigen können. Deutschland war dafür, Ungarn war dagegen. Mit einer solchen Appeasement-Politik, die man gegenüber Bosnien und Herzegowina seit Jahren betreibt, bringt man für das Land nichts Gutes hervor, ganz im Gegenteil.

Das beste Beispiel dafür sind die Gespräche über die Wahlgesetzreform, die derzeit Matthew Palmer, der US-Sonderbeauftragte für die Wahlgesetzreform in Bosnien und Herzegowina, und Angelina Eichhorst vom European External Action Service, führen und die sich dafür schon zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit in Bosnien und Herzegowina aufhalten.

Milorad Dodik (2.v.l.) zusammen mit den beiden anderen Mitgliedern des Staatspräsidiums von Bosnien und Herzegowina, Zeljko Komsic (2.v.r.) und Sefik Dzaferovic (r.) sowie dem US-Sonderbeauftragten Matthew PalmerBild: ELVIS BARUKCIC/AFP/Getty Images

Beide versuchen in sehr intransparenter Weise und mit Druck, die Wahlgesetzreform in Bosnien und Herzegowina durchzuführen. Warum sie das gerade jetzt versuchen, da das Land in der schlimmsten Krise seit dem Kriegsende steht, ist nicht verständlich und schafft kein Vertrauen. Statt Sanktionen gegen diejenigen zu verhängen, die den Staat blockieren und bedrohen, wird ein Weg gesucht, die Extremisten zufriedenzustellen.

Hintergrundagenda einer Teilung?

Ich bin der Meinung, so wie viele Bürger in Bosnien und Herzegowina und wie auch die prominenten Kläger Jakob Finci und Azra Zornic, die seit 2009 und 2014 auf die Implementierung ihrer Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg warten, dass die Wahlen 2022, wie auch alle bisherigen, nach dem bestehenden Wahlgesetz abgehalten werden können. Erst dann und ohne Druck, transparent und mit der Partizipation aller Teile der Gesellschaft, muss die diskriminierende Verfassung von Bosnien und Herzegowina geändert werden, die die Voraussetzung für eine Wahlgesetzreform schafft. Nicht umgekehrt.

Jetzt ist es viel wichtiger, die Gefahr der verschieden Teilungsbestrebungen in Bosnien und Herzegowina abzuwenden. Die Stabilisierung des Staates muss jetzt das Wichtigste sein, aber nicht unter Aufgabe demokratischer Werte. Eine Reform des Wahlgesetzes mit noch mehr ethnischen Vertiefungen unterläuft dieses völlig.

Milorad Dodik (re.) und Dragan Covic, der Vorsitzende der kroatisch-nationalistischen Partei HDZ in Bosnien-HerzegowinaBild: Klix

Es sieht so aus, als ob das Ziel der Internationen Gemeinschaft keine wirklich essenziellen Veränderungen beinhaltet, die als Basis für eine demokratische Weiterentwicklung des Landes fortgeführt werden können, sondern dass eine andere Agenda im Hintergrund besteht, nämlich das Land zu teilen. Daher ist es kein Wunder, dass Palmer und Eichhorst jetzt viel Kritik dafür ernten, dass sie mit den bosnischen Kroaten der nationalistischen Partei HDZ zusammenarbeiten. Denn die HDZ vertritt Wahlgesetzvorschläge nach ethnischen Kriterien und trägt damit nur zu mehr Diskriminierung bei, letztlich mit dem Ziel einer weiteren Teilung und damit dem Ende Bosnien und Herzegowinas.

Keine Doppelstandards zulassen

Die Abstimmung am 29.11.2021 im Parlament Bosnien und Herzegowinas bestätigt dieses. Abgeordnete aus der RS kamen erstmals seit Juli wieder im Parlament zusammen und versuchten gemeinsam mit kroatischen HDZ-Abgeordneten, das Inzko-Gesetz gegen die Genozid-Leugnung zu kippen. Die Tatsache, dass bosnische Serben und bosnische Kroaten den Genozid an den Bosniaken negieren und verurteilte Kriegsverbrecher auch 26 Jahre nach dem Kriegsende feiern, ist ein Warnsignal, dass man in all den Jahren mit EU-Werten und -Prinzipien keinen Schritt nach vorn gemacht hat. Dass Kroatien als EU-Mitglied das unterstützt, lässt einen fassungslos.

Nur die Internationale Gemeinschaft kann jetzt dieses Unheil stoppen und diejenigen, die die Verfassungsordnung des Staates attackieren, aufhalten. Europäische Werte und Menschenrechte werden heute in Bosnien und Herzegowina stellvertretend für die ganze EU verteidigt. Wenn wir hier scheitern, ist auch die demokratische Zukunft der EU ungewiss.

Wir dürfen die Augen vor den Erpressungen nicht schließen und keine Doppelstandards bei den Menschenrechten zulassen - wir müssen uns mit unseren Werten positionieren. Deshalb rufe ich die Internationale Gemeinschaft - die EU, Großbritannien und die USA - und vor allem auch Deutschland auf, aktiv zu werden und die Katastrophe, auf die Bosnien und Herzegowina zusteuert, schleunigst zu stoppen!

Bild: Oliver Rüther

Prof. Dr. Christian Schwarz-Schilling war 2006/07 Hoher Repräsentant und EU-Sonderbeauftragter in Bosnien und Herzegowina. Von 1982 bis 1992 hatte der CDU-Politiker das Amt des Bundesministers für Post und Telekommunikation inne. Er trat aus Protest gegen die Haltung der Bundesregierung im Bosnien-Krieg zurück.