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PolitikEuropa

Gastkolumne: Wie weiterleben in Butscha?

5. April 2022

Vor dem Krieg war Butscha eine Art Idylle für den ukrainischen Schriftsteller, Übersetzer und Journalisten Oleh Kozarew. Jetzt fragt er sich, wie man in die Zukunft schauen soll, nach allem, was dort geschehen ist.

Autorenkolumne | DW Ukrainisch | Oleh Kotsarev

Butscha. Ein Kiewer Vorort, in dem ich die vergangenen fünf Jahre verbracht habe. Eine gemütliche Stadt im Grünen mit Landhäusern und Parkanlagen, die ihre wirtschaftlichen Wurzeln in Eisenbahn, Landwirtschaft und Industrie hat. Sie liegt an der stark befahrenen Autobahn Kiew-Warschau und ist ein Paradies für Hipster, alte Menschen mit Fahrrädern, für Kinder auf Spielplätzen und Schriftsteller. Vor zwei Monaten kannte man den Namen der Stadt nicht einmal in anderen Regionen der Ukraine, und heute steht er weltweit für ein rücksichtsloses, unmenschliches Massaker mitten im Europa des 21. Jahrhunderts. Es ist eine schreckliche Warnung für andere Städte und Dörfer. Und #buchamassacre ist heute Morgen der erste Vorschlag von Google, wenn ich das #-Symbol in die Suchleiste eingebe.

Früher konnte man im Kiewer Vorort Butscha durch Parks spazieren...Bild: Аimaina Hikari/Wikipedia/CCO

Die letzten zwei Jahre in Butscha war ich in einer Art "Elternzeit", ich habe mich hauptsächlich um meine Tochter gekümmert. Entsprechend nahm ich unsere Stadt aus einer "kindlichen" Perspektive wahr. Jeder Ecke der Stadt hallt mir mit lachenden oder weinenden Kindern, lustigen Einfällen oder mit Quengeln entgegen. Wie kann man ein solches Butscha mit Fotos und Videos aus dem heutigen befreiten Butscha zusammenbringen? Selbst wir, die zuvor fliehen konnten, zählten die Stunden bis zur Befreiung. Für diejenigen, die in der besetzten Stadt blieben, war diese Zeit des Wartens eine wahre Hölle auf Erden, eine Hölle voller Folter, Kälte, Hunger und endloser Angst.

Die Jablunska-Straße. Es ist, als wäre es gestern gewesen, als meine Tochter und ich diese Straße im Spätsommer entlang gingen. Damals wollte ich zum Arzt, um eine zweite Impfdosis gegen COVID zu bekommen. Nach der Spritze sollte ich eine Weile auf einer Bank ruhen. Meiner kleinen Tochter gefiel das natürlich nicht und sie lief mir ständig davon. Natürlich setzte sie sich durch und wir spazierten zusammen durch die Gegend. Schon lange wollte ich ihr den malerischen Steinbruch mit einem See am Ende der Jablunska-Straße zeigen. Das Wasser war zum Schwimmen zu kalt, aber wir schauten uns das Ufer und die Bäume an und beobachteten, wie Jugendliche in den See sprangen.

...so sah es in Butscha am 2. April ausBild: Mykhaylo Palinchak/ZUMA Press/dpa/picture alliance

 

Heute steht die Jablunska-Straße für das Massaker in Butscha. Mit Entsetzen sehen wir Fotos und Videos von dieser Straße in Medien weltweit. Als die ukrainische Armee nach Butscha vorrückte, lagen allein auf dieser Straße die Leichen von mehr als 20 von den Russen erschossene Zivilisten.

Aus der befreiten Stadt wird viel Fürchterliches berichtet, unter anderem von Zivilisten in der Tschkalow-Straße, die von den Besatzern erschossen oder in ihren Autos verbrannt wurden. Aber eigentlich heißt sie inzwischen die Lech-Kaczynski-Straße. Für meine Tochter und mich war sie einer der häufigsten Spazierwege, und die Ampel an der Kreuzung war immer ein Ort hitziger Diskussionen:

- Gehen wir in den Park?

- Nein, Papa! Ich will in die Innenstadt, auf den Spielplatz und zu McDonald's!

- Aber da waren wir doch erst gestern!

- Nein, ich möchte nicht in den Park, ich möchte nur dorthin gehen, wo ich hin will!

Auf der Lech-Kaczynski-Straße gibt es einprägsame Stellen, zum Beispiel eine, wo es immer nach Gas riecht. Als ich COVID hatte, habe ich dort überprüft, ob mein Geruchssinn zurückgekehrt ist. Dann gibt es da einen Zaun, auf dem Steine ​​eine Art "Landkarte" bilden, ein Tor mit Hunden und einen Platz mit einem Tschernobyl-Mahnmal. Dort habe ich häufig versucht, meiner Tochter zu erklären, was in Tschernobyl passiert war. Jetzt wird es noch viel mehr zu erklären geben. Ich werde meiner Tochter Fotos der befreiten Stadt zeigen müssen, aber nur solche, auf denen sie das Schlimmste nicht sieht.

Wie soll man in so einer gemütlichen Stadt im Grünen weiterleben, nach all dem, was Russland ihr angetan hat? Wie soll man mit Kindern reden, oder mit Freunden wie früher über Renovierungen oder Literatur sprechen, an Orten, wo man ein Massengrab mit fast 300 Menschen gefunden hat? Es waren nicht nur Putin oder Schoigu, die all das getan haben. Es waren gewöhnliche russische Männer, die gemordet und gefoltert haben, die Menschen neben Stapeln von Pflastersteinen erschossen haben, die für Bauarbeiten in einer friedlichen Stadt bestimmt waren, die Menschen vergewaltigt und verbrannt haben. Das Böse in Butscha ist kein abstrakter Krieg oder ein abstraktes Russland, sondern es sind ganz konkrete Menschen, die sich dazu entscheiden haben. Es waren keine Raketen, die wahllos treffen können, die hier getötet haben.

Zerstörte Idylle: Leichen auf einer Straße in ButschaBild: Mykhaylo Palinchak/ZUMA Press/dpa/picture alliance

 

Ich denke, in dieser Klarheit liegt eine der Antworten auf die Frage, wie man weiterleben soll. Es darf kein Vergessen geben. Man darf die Tragödie der russischen Aggression nicht auf Butscha allein reduzieren und man darf unsere Stadt nicht zu einem leeren, abstrakten Symbol machen. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass es in der Ukraine viele andere Orte gibt, wo ähnliche oder andere schreckliche Dinge passiert sind oder jetzt passieren: Mariupol und Isjum, Charkiw und Tschernihiw, Borodjanka und Makariw.

Am wichtigsten ist es wohl zu wissen, wie man die Täter zur Rechenschaft ziehen wird. Es liegen schon Daten darüber vor, welche russischen Einheiten in Butscha und anderen geschundenen Orten stationiert waren. Was kommt als nächstes? Spontane Rache? Eine Spezialoperation als Vergeltung? Ein internationales Tribunal? Wird die freie Welt zu mehr in der Lage sein, als zu Hashtags?

Butscha gibt es und wird es weiter geben. In Chatrooms von Bewohnern, deren Häuser noch stehen, wird bereits über die Reparatur von Türen zu geplünderten oder von den Russen "befreiten" Wohnungen diskutiert. In sozialen Netzwerken wird schon über die Vor- und Nachteile lokaler Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens diskutiert, auch darüber, an welchem Tag das eine oder andere Foto aufgenommen wurde. Man beginnt, den Müll und all das zerstörte feindliche militärische Gerät wegzuräumen. Und evakuierte Bewohner überhäufen die Stadtverwaltung und das Internet mit der Frage: "Wann können wir nach Hause zurückkehren?"

Das Leben geht weiter.