Bundesregierung muss Journalisten in Afghanistan helfen
Anne Renzenbrink
Gastkommentar
16. August 2021
Medienschaffende sind nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan in akuter Lebensgefahr. Die Bundesregierung muss ihnen unbürokratisch Visa ausstellen, meint Anne Renzenbrink von "Reporter ohne Grenzen".
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Frauen am Mikrofon in Afghanistan - das gehört wohl ab sofort wieder der Vergangenheit anBild: Mohammad Jan Aria/Imago Images
Die Nachrichten aus Afghanistan sind erschütternd. Nachdem die Taliban in den vergangenen Wochen immer mehr Gebiete im Land erobert haben, sind sie nun auch nach Kabul vorgerückt und verkündeten dort ihren "Sieg". Fernsehbilder zeigen Taliban-Kämpfer im Präsidentenpalast. Die Extremistengruppe gehört zu den größten Feinden der Pressefreiheit weltweit. In den vergangenen Jahren haben sie immer wieder Anschläge verübt, bei denen Medienschaffende getötet wurden.
So etwa 2017, als bei einem Doppelanschlag auf das Parlament in Kabul ein Kameramann und eine Mitarbeiterin des parlamentarischen Fernsehsenders starben. Zwei weitere Mitarbeiter des Senders und ein Journalist der Wochenzeitung Kerad wurden verletzt. Auch der "Islamische Staat" hat immer wieder Anschläge im Land verübt: Bei einem Doppelanschlag in Kabul 2018, der sich gezielt gegen Journalistinnen und Journalisten richtete, wurden allein neun Medienschaffende getötet.
Vor allem Frauen Opfer fundamentalistischer Gewalt
Vor dem Hintergrund steht Afghanistan in der Jahresbilanz der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen regelmäßig unter den fünf Ländern, in denen die meisten Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Arbeit sterben. Mit dem Siegeszug der Taliban ist zu befürchten, dass sich die Situation dramatisch verschärft.
Anne Renzenbrink ist Pressereferentin und Afghanistan-Expertin bei Reporter ohne GrenzenBild: Copyright: Martin von den Driesch
Insbesondere für Journalistinnen in Afghanistan ist die Arbeit gefährlich. In dem Land, in dem Frauen immer wieder Zielscheibe fundamentalistischer Propaganda sind, wurden allein im März mindestens drei Journalistinnen ermordet: Mursal Wahidi, Sadia Sadat und Shahnaz Roafi. Am 10. Dezember 2020 schossen zwei Männer auf das Auto der Journalistin Malala Maiwand, als diese auf dem Weg zur Arbeit war. Maiwand und ihr Fahrer kamen dabei ums Leben.
Mit dem Siegeszug der Taliban droht neben der Gefahr für Leib und Leben auch eine Unterversorgung der Bevölkerung mit Informationen. Inzwischen mussten bereits mehr als 50 Medien - hauptsächlich lokale Radio- und Fernsehsender - in den von den Taliban kontrollierten Gebieten ihren Betrieb einstellen. Medien, die noch nicht schließen mussten, senden nur noch religiöse und von der Extremistengruppe vorgegebene Inhalte. Rund 100 Journalistinnen und Journalisten haben ihren Arbeitsplatz verloren, da sie aus den von den Taliban besetzten Gebieten fliehen mussten.
Nicht nur Mitarbeiter deutscher Medien brauchen Hilfe
Sie suchten Zuflucht in den großen Städten, zuletzt in Kabul. In ausländischen Botschaften versuchten afghanische Journalistinnen und Journalisten, ein Visum zu bekommen, um das Land verlassen zu können. Viele von ihnen befürchten, dass diejenigen, die für ausländische Medien gearbeitet haben, bevorzugt behandelt werden könnten.
Die Bundesregierung muss in einem ersten unmittelbaren Schritt für die gefährdeten afghanischen Journalistinnen und Journalisten, aber auch Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, die nirgends mehr im Land sicher sind, unbürokratisch die Ausreise ermöglichen und Nothilfevisa ausstellen. Reporter ohne Grenzen hat sich zwar gemeinsam mit der Deutschen Welle und anderen deutschen Medien in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin und den Bundesaußenministerbesonders für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen Medien eingesetzt. Und doch darf diese Nothilfe nicht nur denjenigen zugutekommen, die für deutsche Medien in Afghanistan gearbeitet haben.
In diesem Jahr starben dort bereits fünf Medienschaffende. Ohne schnelles Handeln drohen weitere Opfer. Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan sind in akuter Lebensgefahr.
"Der Krieg in Afghanistan ist vorbei"
Der Staatschef ist geflohen, die radikal-islamischen Taliban sind in den Präsidentenpalast in Kabul eingerückt. In der Bevölkerung herrscht große Unsicherheit. Ausländer werden in Sicherheit gebracht.
Bild: Kyodo/picture alliance
Sorge der Frauen
Nach dem Vormarsch der Taliban auf Kabul herrscht Anspannung in der afghanischen Hauptstadt. Die Situation könnte sich vor allem für Frauen schnell verschlechtern. Unter der Taliban-Herrschaft waren Schulen für Frauen tabu. Mohammed Naeem, Polit-Sprecher der Taliban, erklärte jetzt, dass sie die Rechte von Frauen und Minderheiten,
achten würden, aber nur, wenn sie der Scharia entsprächen.
Bild: Kyodo/picture alliance
Geschlossene Tore
Nach dem Rückzug der alliierten Truppen aus Afghanistan, hatten die Taliban leichtes Spiel, zurück an die Macht zu gelangen. Die USA haben begonnen, ihr Botschaftspersonal in Kabul auszufliegen - nur wenige Mitarbeiter sollen in einer diplomatischen Einrichtung am Flughafen bleiben. Die Bundeswehr hat auch mit der Evakuierung deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte aus Kabul begonnen.
Bild: WAKIL KOHSAR/AFP
Dramatische Szenen am Flughafen
Die einzige Möglichkeit, das Land zu verlassen, ist der internationale Flughafen in Kabul.
Tausende Menschen versuchen zu fliehen. Der Zugang zum Flughafen ist unübersichtlich. Immer wieder kommt es zu dramatischen Szenen.
Bild: AFP
Taliban im Machtzentrum
Nach dem überraschend schnellen Eroberungsfeldzug in Afghanistan haben die radikal-islamischen Taliban ihren Sieg erklärt. Nur gut ein Vierteljahr nach Beginn des internationalen Truppenabzugs aus dem Land am Hindukusch besetzten sie den Palast von Präsident Aschraf Ghani.
Bild: Zabi Karim/AP/picture alliance
Islamisten wollen "Probleme lösen"
"Der Krieg in Afghanistan ist vorbei", sagte Mohammad Naeem (Archivbild), Sprecher des Taliban-Politbüros. "Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen", fügte er hinzu. Die Form der künftigen Regierung werde bald feststehen.
Bild: Sefa Karacan/AA/picture alliance
Symbol der neuen Herrscher
Vielerorts haben die Taliban ihre Flagge gehisst - wie hier am zentralen Platz von Kundus. Die Eroberung der Provinzhauptstadt im Nordosten Afghanistans vor wenigen Tagen war ein Schock für die westliche Gemeinschaft. In Kundus waren deutsche Soldaten zehn Jahre lang stationiert.
Bild: Abdullah Sahil/AP Photo/picture alliance
Polizeifahrzeug in den Händen der Taliban
Zig Milliarden Dollar haben die USA in den vergangenen Jahren in die Ausbildung und Ausrüstung des afghanischen Militärs und der Polizei investiert. Mit der vielerorts nahezu kampflosen Kapitulation der Regierungstruppen fallen Waffen und Ausrüstung nun in die Hände der Islamisten. Hier patrouillieren Talibankämpfer in einem Polizeifahrzeug vor dem Flughafen von Kabul.
Bild: REUTERS
Ghani schon im Ausland
Der afghanische Präsident - hier bei einer Fernsehansprache am Samstag - soll nach Usbekistan geflüchtet sein. Ghani habe sich gemeinsam mit seinem Stabschef in die usbekische Hauptstadt Taschkent abgesetzt, berichtete der Sender Al Dschasira unter Berufung auf einen Leibwächter.
Staus auf Kabuls Straßen am Sonntag: Viele Afghanen möchten ihr Land rasch verlassen. Laut Medienberichten haben die Taliban angeordnet, niemanden an der Ausreise zu hindern. Viele Menschen schlagen sich auch zu Fuß zum Flughafen durch. Etliche Länder haben ihre Bürger aufgerufen, umgehend aus Afghanistan auszureisen.
Bild: Khodaiberdi Sadat/AA/Getty Images
Evakuierungsaktion angelaufen
"Wir setzen jetzt alles daran, unseren Staatsangehörigen und unseren ehemaligen Ortskräften eine Ausreise in den kommenden Tagen zu ermöglichen", erklärte Außenminister Heiko Maas. Flugzeuge der Bundeswehr starteten am Sonntagabend in Richtung Afghanistan, um die Evakuierung zu unterstützen.