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Politik

Corona macht Europas Grenzen sichtbar

Kolumnist Ivaylo Ditchev
Ivaylo Ditchev
20. April 2020

Das Coronavirus hat nicht nur die Globalisierung gestoppt. Die Krise zeigt auch, wie zersplittert Europa heute ist - nicht nur zwischen Ländern, sondern auch zwischen Generationen und Klassen, meint Ivaylo Ditchev.

Kilometerlange LKW-Staus vergangene Woche an der deutsch-tschechischen GrenzeBild: picture-alliance/dpa/CTK/M. Chaloupka

Das Erstaunlichste an der Corona-Pandemie ist, wie leicht Grenzen wiederkehren können. Eine Internet-Metapher, die wir oft verwenden, drückt es am besten aus: Die europäischen Länder haben alle nacheinander mit einem einfachen Mausklick eine Firewall installiert. Jetzt ist der Tourismus tot, der Handel liegt am Boden, die Börse verliert Milliarden und die Globalisierung selbst ist zum Erliegen gekommen.

Hunderttausende Wanderarbeiter sind nach Bulgarien, Serbien oder Rumänien zurückgekehrt, wurden dort aber mit gemischten Gefühlen empfangen. Zwar war in vergangenen Jahrzehnten ständig geklagt worden, die Politik müsse "unsere Kinder zurückbringen". Jetzt sind alle wieder "an ihrem Platz" - doch gibt es in dieser Krisenzeit keine Arbeitsplätze, die den Heimkehrern angeboten werden könnten. Hinzu kommt, dass die Volkswirtschaften die Rücküberweisungen, die bisher so regelmäßig nach Hause kamen, bereits jetzt stark vermissen.

Der Brain Drain setzt sich fort

Die Begrüßungszeremonie im Vaterland ist eine traurige Quarantäne, die für jeden gilt, der aus dem Ausland einreist. Schnell hat man das Gefühl, in der Falle zu sitzen und nicht mehr weg zu können - woran sich Menschen, die den Kommunismus erlebt haben, noch gut erinnern.

DW-Gastkommentator Professor Ivaylo DitchevBild: Svetla Encheva

Gleichzeitig wird medizinisches Personal weiter gezielt in den Westen geschickt, um Ländern wie Österreich und Großbritannien zu helfen. Einige finden das skandalös, da diese Menschen gerade jetzt auch zu Hause am meisten gebraucht werden. Andere verweisen darauf, dass Osteuropa weniger betroffen sei und dies der Moment sei, Solidarität zu zeigen (und möglicherweise wieder etwas Geld durch Rücküberweisungen zu erhalten).

Die neue Grenze zwischen Ost und West hat sogar eine medizinische Dimension: Einer Theorie zufolge könnte ein spezifischer Impfstoff gegen Tuberkulose, der früher im Staatssozialismus obligatorisch war, auch eine Schutzwirkung gegen das Coronavirus haben - Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland sind bereits im Gange. Von einem eher zynischen Standpunkt aus betrachtet, könnte die höheren Opferzahlen der neuen Krankheit im Westen der Preis für deren bessere Gesundheitssysteme sein, welche die Menschen länger am Leben halten. In Italien und Spanien hat man heute die höchste Lebenserwartung - im Schnitt 83 Jahre - und zugleich die höchste Sterblichkeitsrate in Europa.

Paradoxer Anstieg der Zustimmung

Seltsamerweise steigt laut Umfragen die Zustimmung zu allen Politikern im Amt - ganz gleich, ob sie die Pandemie gut bewältigen oder nicht: Angela Merkel ebenso wie Donald Trump, Giuseppe Conte ebenso wie Moon Jae-in. Es ist traditionell so, dass sich die Bürger in Krisenzeiten um ihre Führer scharen. Ihre Unterstützung wird erst wieder abnehmen, wenn die Krise vorbei ist - nicht solange sie andauert.

Aber Grenzen teilen auch die Gesellschaften. Rassistische Ausfälle gegenüber asiatisch aussehenden Bürgern zu Beginn der Pandemie mögen nur ein milder Auftakt dessen gewesen sein, was noch folgen könnte: In Bulgarien wird zum Beispiel gefordert, die Ghettos der Roma zu verbarrikadieren. Von dort - so wird fälschlicherweise behauptet - könnten Ansteckungen ausgehen. Wie üblich werden rassistische Vorurteile mit pseudowissenschaftlichen Argumenten kombiniert. Würde man dem in Bulgarien nachgeben, werden andere Balkanländer gerne dem Beispiel folgen.

Auf der Suche nach Sündenböcken

Italiens ehemaliger Innenminister Matteo Salvini gab afrikanischen Migranten die Schuld an dem Virus, obwohl offensichtlich ist, dass Touristen und global agierende Eliten stärker an seiner Verbreitung beteiligt waren. Auch den Namen der Krankheit, welchen der US-Präsident immer wieder nutzt, impliziert eine Ethnisierung: "chinesisches Virus". Die Pandemie ist also die Schuld unserer Feinde, der Fledermausfresser, und hat nichts mit uns selbst zu tun.

Die dramatischste Grenze ist jedoch zwischen den Generationen gezogen worden: Die Krankheit stellt Jung und Alt gegeneinander, denn vor allem letztere scheinen von ihr bedroht. So wächst das Gefühl, die Weltwirtschaft werde geopfert, um das Leben von Menschen zu retten, die ohnehin bald sterben müssen. Wäre es nicht besser, diese irgendwo einzusperren und die anderen "Herdenimmunität" erwerben zu lassen?

Den Pakt zwischen den Generationen überdenken

Eine solche Entscheidung scheint moralisch unmöglich. Dennoch macht die Krise ein Überdenken des Generationenpakts notwendig: Ethische Überlegungen werden durch harte Zahlen in Frage gestellt. Die Gesundheitsausgaben für die über 65-Jährigen in der EU sind etwa dreimal so hoch wie für alle jüngeren Altersgruppen zusammen. Darüber hinaus stellen die Älteren eine immer größere Bedrohung für die Rentensysteme dar, da immer weniger Junge immer mehr Rentner versorgen müssen. Die niedrigen Geburtenraten - insbesondere die katastrophal niedrigen in Osteuropa - sind aber nicht zuletzt die Schuld der Babyboomer-Generation, die demnächst in Rente geht.

Einige sprechen mit Blick auf die Renten von einer tickenden Zeitbombe: Weltweit werden 2050 rund 400 Milliarden Dollar pro Jahr fehlen. Aber der dramatischste Aspekt des Zusammenpralls der Generationen bleibt die Zerstörung der Umwelt, verursacht vor allem von denjenigen, die heute längst von ihren Renten leben.

Klassenkonflikt in Sicht?

Und das ist vielleicht noch nicht das Ende der Geschichte. Wir könnten in der Folge der Corona-Krise auch einen wachsenden Klassenkonflikt zwischen Arm und Reich erleben. Spannungen zwischen der industriellen und der sich entwickelnden Welt. Zwischen demokratischen und autoritären Staaten.

In Europa sind plötzlich wieder Grenzen sichtbar geworden. Können wir hoffen, dass sie genauso über Nacht auch wieder verschwinden werden?

Ivaylo Ditchev ist Professor für Kulturanthropologie an der Universität Sofia in Bulgarien. Er war Gastdozent unter anderem. in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten.

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