Türkischer Journalismus ringt nach Luft
30. April 2015Türkische Journalisten ringen nach Luft, um überleben und arbeiten zu können, sie kämpfen gegen die völlige Erstickung. Das gilt vor allem für diejenigen, denen es wirklich um die Würde, Integrität und die Rolle ihres Berufs für das öffentliche Interesse geht. Der Journalismus in der Türkei steht auf zwei Ebenen unter Druck: Während sich die Zensur auf verschiedenen Wegen verschärft, nimmt auch die Selbstzensur zu. Zusammen lähmen sie das Berichten und Kommentieren.
Seit den Gezi-Protesten wurden bei Korruptionsermittlungen oder dem "Islamischen Staat" zugeschriebenen Anschlägen mehr als 40 mal Nachrichtensperren verhängt, um die Öffentlichkeit vor den Tatsachen abzuschirmen. Die Ablehnung von Akkreditierungsanträgen wurde zur täglichen Praxis. Kritische Zeitungen bleiben von Turkish-Airlines-Maschinen und Flughäfen ebenso ausgeschlossen wie von Behörden. Die türkische Rundfunkaufsicht RTUK arbeitet als wichtigste Zensurbehörde und verhängt immer wieder Strafen gegen Fernsehsender.
Schon die Drohung reicht
Die Inhaftierung von Journalisten ist zwar nicht an der Tagesordnung, die Drohung damit allerdings schon. Die Zahl der rechtlichen Anfragen und Gerichtsklagen gegen Journalisten, Blogger und Twitterer, meist wegen angeblicher "Beleidigung" von Staatspräsident Erdoğan, sind in die Höhe geschossen. In einigen Fällen stehen Kollegen vor langen Haftstrafen.
Nach Angaben der Organisation "Reporter ohne Grenzen" verbüßen in der Türkei etwa 20 Journalisten Haftstrafen. Auch wenn die Zahl der Inhaftierungen abnimmt, ist doch die Art der jüngsten Fälle äußerst beunruhigend, vor allem die von Nedim Şener, Ahmet Şik und anderen. Hidayet Karaca, Chef des Fernsehsenders "Samanyolu", war im Dezember wegen Terrorverdachts festgenommen worden und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. In einem ähnlich schwerwiegenden Fall wurde Mehmet Baransu, ein Enthüllungsjournalist der unabhängigen Tageszeitung "Taraf", festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, "sich geheime Staatsunterlagen beschafft" zu haben. In Regierungskreisen wird er als "Spion" bezeichnet. Beide Fälle drohen, zu Präzedenzfällen zu werden und dadurch den Journalismus noch weiter zu lähmen.
Angst vor der Entlassung
Selbstzensur ist in der Türkei normal geworden, sie ist heute Teil der beruflichen Kultur. Sie ist eine schlimme Form der "Selbstinhaftierung". Ich habe daher immer gesagt, dass die verbreitete Anwendung der Selbstzensur in den Medienkonzernen von Moguln, die für ihre verzweigten Geschäftsinteressen vom Segen der Regierung abhängen, deren Redaktionen in Freiluftgefängnisse verwandelt hat, wo Chefredakteure mit gutem Gehalt dafür sorgen, dass Geschichten mit wirklichem Nachrichtenwert blockiert werden, und die Reporter und Kolumnisten zu einem regierungsfreundlichen Journalismus anhalten. Diejenigen, die sich dem widersetzen, werden systematisch gefeuert. Da nur 1,5 Prozent der türkischen Journalisten mutig genug sind, einer Gewerkschaft beizutreten, existiert journalistische Unabhängigkeit praktisch überhaupt nicht, denn die Angst, Einkommen zu verlieren, ist größer als die Angst, verklagt oder verhaftet zu werden.
Als Gesamtbild haben wir eine Mediensituation, von der sich 80 Prozent unter der Kontrolle der Regierung befinden und die unfähig ist, sich der wichtigsten Werte dessen, was wir als Journalismus kennen, zu "erinnern". Die Alarmglocken klingen laut und deutlich.
Yavuz Baydar ist Gründungsmitglied der "Plattform für unabhängigen Journalismus", P24, Kolumnist der englischsprachigen türkischen Tageszeitung "Today's Zaman" und Blogger für die amerikanische Onlinezeitung "Huffington Post".