1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Die Leidensfähigkeit der Ägypter ist erschöpft

Kommentarbild PROVISORISCH | Rainer Hermann, FAZ & Klett-Cotta
Rainer Hermann
27. September 2019

Neue Massenproteste auf den Straßen Ägyptens, das Volk am Nil begehrt auf. Das Regime al-Sisi ist alarmiert, hat aber aus früheren Protestwellen gelernt, meint Rainer Hermann von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Die Gründe, die 2011 zu den Massenprotesten in Kairo und vielen anderen Städten Ägyptens geführt hatten, sind nicht weniger geworden. Ganz im Gegenteil: Sie nahmen vielmehr in einem Maße zu, dass an den neuen Protesten nur eines überrascht: Dass sie sich bereits jetzt entladen - trotz einer Repression, wie es sie selbst unter dem 2011 gestürzten Präsidenten Husni Mubarak nicht gegeben hatte. Die Leidensfähigkeit der Ägypter ist an ihre Grenzen gestoßen.

Denn die Mittelschicht hat in den vergangenen Jahren ihre Reserven aufgebraucht, so dass sich die Menschen kaum mehr gegenseitig beistehen können. Den Armen helfen die Großprojekte des Regimes al-Sisi nicht, so dass sie noch ärmer geworden sind. Und noch nie hatte es in der Geschichte Ägyptens so viele politische Gefangene gegeben, so dass die Gefängnisse aus allen Nähten platzen und neue gebaut werden.

Neue Verhaftungswelle

Mehr als 60.000 Ägypter sollen aus politischen Gründen - das Regime nennt sie "Terroristen" - inhaftiert sein. Seit den neuen Massenprotesten, die seit dem 20. September begonnen haben, werden es stetig mehr. Die neue Verhaftungswelle macht auch vor dem ägyptischen Militär nicht Halt, wo al-Sisi offenbar Kritiker ausschalten will, bevor sie ihm gefährlich werden können.

Rainer Hermann ist Redakteur der Frankfurter Allgemeinen ZeitungBild: Helmut Fricke

Wie auch bei den Protesten des Jahres 2011 kam der Anstoß aus einer Ecke, mit der niemand gerechnet hatte. Mohamed Ali, ein Bauunternehmer, den das Militär über Jahre nicht bezahlte hatte, setzte sich nach Spanien ab, von wo aus er alle paar Tage über Youtube Geschichten aus dem Korruptionsalltag des ägyptischen Militärs zum Besten gibt. Dazu hält er Originaldokumente - etwa schriftliche Korrespondenzen und Kontoauszüge - in die Kamera, und er ruft die Ägypter auf, anderen mitzuteilen, was sie selbst über die Machenschaften vor allem der Generäle wüssten. Was das Regime noch mehr alarmiert: Immer mehr tun das auch!

Seine Aufrufe zu Protesten und zum Sturz al-Sisis hätten keinen Erfolg, gäbe es in der Gesellschaft nicht eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit den heutigen Zuständen. Glaubwürdig ist Mohamed Ali für viele Ägypter auch deswegen, weil er aus ärmsten Verhältnissen stammt und nun wie ein Robin Hood gegen die Bereicherung einer Schicht angeht, die ohnehin mit Privilegien verwöhnt ist: das Militär. Es spricht für sich, dass Mohamed Ali für die Generäle zahlreiche zivile Projekte wie Hotels und moderne Paläste gebaut hat, die überhaupt nichts mit dem militärischen Auftrag einer Armee zu tun haben.

Der Name eines möglichen Nachfolgers kursiert schon

Mohamed Ali wuchs am Rande von Kairos Stadtteil Agouza in einem der ärmsten Viertel der Metropole auf, er hat keine reguläre Schule besucht und wurde als Selfmademan groß. Heute sagt er, was er tue, mache er für die Armen. Denn auch als Millionär habe er nicht vergessen, wie diese lebten. Das Land liege am Boden. Er greift insbesondere Präsident Abdel Fattah al-Sisi und dessen Ehefrau an, die wie Mohamed Ali aus ärmlichen Verhältnissen stammen. Umso mehr empört heute viele Ägypter, wie gerade al-Sisis Frau ihren neuen Reichtum zur Schau stellt - ob mit Schmuck oder mit Luxuswünschen zum Umbau eines für sie gebauten Palastes, den Mohamed Ali seinen Landsleuten nun präsentiert hat.

Die neuen Massenproteste begannen am Freitag vergangener Woche auf dem Tahrir-Platz in KairoBild: Reuters/A. A. Dalsh

Al-Sisi hat aus dem Sturz Mubaraks gelernt: Die Sicherheitskräfte wollen heute mit aller Brutalität verhindern, dass auf den Straßen und Plätzen Ägyptens wieder eine kritische Masse zusammenkommt, die den Sturz des Präsidenten auslösen könnte. Er muss in höchstem Maß alarmiert sein. Sonst würden nicht auch seine Medien aus allen Kanonen gegen die neue Protestbewegung und ihre Unterstützer schießen.

Ein Name, wer al-Sisi ablösen könnte, kursiert bereits: Sami Anan. Er war Chef des Generalstabs von 2005 bis 2012. Als er 2018 bei der Präsidentenwahl gegen al-Sisi kandidieren wollte, wurde er verhaftet. Anan kann sich der Unterstützung der vielen Offiziere sicher sein, die in den vergangenen Monaten entlassen worden sind. Es gärt nicht nur auf dem Tahrir-Platz, sondern auch in der ägyptischen Armee. Der Druck im ägyptischen Kessel nimmt wieder zu.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen