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Politik

Die Ukraine, Steinmeier und seine Formel

Portrait des Autors Juri Andruchowytsch
Jurij Andruchowytsch
22. April 2022

In Deutschland ist die "Steinmeier-Formel" zur Befriedung des Donbass kaum ein Begriff. In der Ukraine ist sie jedoch unvergessen, weshalb der Bundespräsident dort nicht willkommen ist, meint Juri Andruchowytsch.

In Polen musste sich Bundespräsident Steinmeier kritischen Fragen stellen, in der Ukraine wollte man ihn nicht empfangenBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war in Kiew unerwünscht. Es wurde nicht mitgeteilt, wer genau in der ukrainischen Führung diese Entscheidung getroffen hat. Jedenfalls konnte sich Steinmeier nicht der kleinen Gruppe anderer europäischer Staatspräsidenten anschließen, die in Kiew freudig empfangen wurde.

Warum ist dem deutschen Bundespräsidenten solcher Ärger widerfahren? Im vorigen Satz kann man die logische Betonung sowohl auf das Wort "deutsch" als auch auf das Wort "Bundespräsident" legen. Noch bin ich unsicher, welches von ihnen in diesem Fall stärker betont werden sollte.

Der Kumpelhafte

Zunächst aber ein kleiner Exkurs in meine persönliche Vergangenheit. Im Spätsommer des Jahres 2016 war ich in Weimar, wo mir zusammen mit einem prominenten nigerianischen Fotografen und einem nicht minder prominenten georgischen Archäologen die Goethe-Medaille verliehen wurde. Beim offiziellen Abendprogramm gab es ein Treffen mit drei Außenministern. Zu Erinnerung: Deutschland, Polen und Frankreich bilden das sogenannte "Weimarer Dreieck". Die Außenminister der drei Länder treffen sich von Zeit zu Zeit - nicht unbedingt in Weimar, aber damals war es dort. Laut Programm sollten die drei Minister auf die drei frischgebackenen Preisträger zukommen und ihnen gratulieren.

Jurij Andruchowytsch ist ukrainischer SchriftstellerBild: picture-alliance/

Unser Treffen dauerte zwischen einer und maximal drei Minuten. Der Franzose schien ein wenig gelangweilt, vielleicht war er einfach müde. Der Pole wirkte mit irgendetwas unzufrieden und mürrisch. Nur der damalige deutsche Außenminister Steinmeier strahlte eine Art Kumpelhaftigkeit aus. Mir kam es vor, als könne er sich kaum zurückhalten, uns auf die Schulter oder den Rücken zu klopfen. Dann sagte er so etwas wie "Oh, gut gemacht, herzlichen Glückwunsch… Die Goethe-Medaille! Super, super… Kann jemand sagen, wofür sie vergeben wird - für welche Verdienste?" In diesem Ton sprach er mit uns dreien. Es war eine blitzschnelle Episode, in der uns niemand wirklich zuhörte. Als die TV-Kameras ihre Arbeit getan hatten, zog das Minister-Trio weiter.

Der exemplarische Putin-Versteher

Akinbode Akinbiyi, David Lordkipanidze und ich tauschten später unsere Eindrücke von diesem sogenannten "Treffen" aus. Wir waren uns einig, dass uns alles ziemlich unprofessionell vorkam und dass Steinmeiers Frage eher als Scherz zu betrachten war - wenn auch als missglückter. Andernfalls würde es einem noch trauriger zumute. Keiner von uns hatte irgendwelche Verbeugungen der Minister vor uns erwartet. Aber diese offensichtliche Oberflächlichkeit - und die weniger offensichtliche, aber spürbare Hochnäsigkeit - das enttäuschte uns dann doch.

Vor allem mich: Ich kam doch aus dem Land, für das sich Frank-Walter Steinmeier damals schon seine berüchtigte Formel ausgedacht hatte. Ich möchte nicht behaupten, dass sie in seiner weiteren Karriere eine entscheidende Rolle gespielt hat und dass Steinmeier ausgerechnet dank ihr zweimal zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Aber mit Sicherheit kann ich sagen, dass er gerade wegen dieser Formel in den Augen der ukrainischen Gesellschaft bis heute als ein exemplarischer Putin-Versteher gilt und fast schon als ein "Agent Moskaus" angesehen wird.

Eine gemimte Urheberschaft?

Die berüchtigte Formel, die nun seit dem 24. Februar endgültig jede Bedeutung verloren hat, sollte de facto die Kapitulation der Ukraine im Donbass festschreiben. Sie entsprach in einem solchen Maße Putins damaligen Plänen, dass die Ukrainer ihre wahre Urheberschaft nicht ganz ohne Grund Moskau zuschrieben. Steinmeier habe, dem Wunsch seiner russischen Freunde folgend, angeblich zugestimmt, diesem für die Ukraine so mörderischen Projekt seinen Namen zur Verfügung zu stellen und so die Urheberschaft zu mimen. Wenn Geheimdiplomatie als das Böse schlechthin gilt, dann hat in diesem Fall der jetzige deutsche Bundespräsident das Urheberrecht auf dessen Verkörperung erhalten. Zumindest in den Augen vieler Ukrainer.

Ich glaube nicht, dass Steinmeier darüber informiert ist, wie oft die ukrainischen Medien, insbesondere seit 2019, seinen Namen in untrennbarer Kombination mit dem Wort "Formel" genannt haben. Ohne Übertreibung: Es sind tausende, vielleicht sogar zehntausende Male. Proportional zu dieser "Popularität" gibt es noch die Lawine von Kritik, Misstrauen und völliger Ablehnung. Die "Steinmeier-Formel" ist für die Ukrainer zum Synonym für etwas Heimtückisches und Bedrohliches geworden, eine Art Trojanisches Pferd zur Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit.

Keiner kommt an seine Unbeliebtheit heran

Vielleicht hat der "Autor" selbst, der nun längst in ein höheres - wenn auch in ein eher dekoratives - Amt gewechselt ist, schon vergessen, worin der Kern der von ihm erfundenen Formel besteht. Aber in der Ukraine hat man nichts vergessen. In all diesen Jahren wurde daran erinnert - fast jeden Tag, fast immer mit einer Verfluchung und immer in Verbindung mit dem Namen Steinmeier. Auf der Liste der deutschen Politiker, die bei den Ukrainern am unbeliebtesten sind, liegt Steinmeier nur noch hinter seinem alten Chef, dem Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Doch was die heute politisch aktiven Persönlichkeiten angeht, kommt niemand von ihnen an Steinmeiers Unbeliebtheit heran.

Bilder wie dieses - gemeinsam mit dem russischen Außenminister Lawrow - nähren die Vorbehalte gegen Steinmeier in der UkraineBild: Alexander Shcherbak/TASS/IMAGO

Am Beispiel Steinmeier sollten Deutschlands Eliten erkennen, wie viel Schaden die Doppeldeutigkeit ihrer Politik im russisch-ukrainischen Krieg seit 2014 angerichtet hat. Dabei haben sie nicht nur der Ukraine geschadet, sondern sich selbst noch viel mehr: Gebrandmarkt als ein Partner, der äußerst unzuverlässig, zynisch und gerissen ist, dessen Worte auf unerhörte Weise von den Taten abweichen. Das hat dazu geführt, dass Deutschland objektiv an Bedeutung verloren hat und - dank der Anstrengungen nicht nur früherer, sondern auch der jetzigen Bundesregierung - unter die Außenseiter geraten ist.

Der "unwichtige Präsident eines unwichtigen Landes"

Die ukrainische Gesellschaft und die stark von der Vox populi abhängige Führung des Landes haben sehr deutlich den Moment verspürt, als die Vereinigten Staaten und Großbritannien das Vakuum der ausbleibenden Unterstützung füllten. Den Moment, in dem man selbst gegenüber einem Bundespräsidenten Steinmeier "Nein" sagen kann und dies aus wahltaktischen Gründen auch muss.

Aber der "unwichtige Präsident eines unwichtigen Landes" kann die Situation radikal korrigieren. Auch Deutschland als Ganzes kann seine in den Augen der Ukrainer verlorene Position wieder zurückgewinnen - insbesondere dort, wo weder die Vereinigten Staaten noch Großbritannien nicht mitsprechen können: Und zwar bei einer effektiven und engagierten Unterstützung der Ukraine auf dem Weg zu einer EU-Mitgliedschaft. Dies sollte Deutschland aber tun, ohne mit dem Aggressor zu flirten und den damit verbundenen Doppeldeutigkeiten.

 

Jurij Andruchowytsch ist ukrainischer Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer. Er gilt heute als eine der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen seines Landes. Andruchowytschs Werke werden international übersetzt und verlegt.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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