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PolitikEuropa

Die Verantwortung für eine bessere Welt

DW Interview - Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt
Pinchas Goldschmidt
7. November 2021

Menschen suchen Orientierung in der sich schnell wandelnden Welt. Die Religionen - alle einzigartig in ihren Bräuchen und Traditionen - müssen dabei an einem Strang ziehen, meint Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt.

Christen, Juden und Muslime leben in Europa. Daraus ergibt sich eine gemeinsame Verantwortung für GesellschaftBild: picture alliance/Godong

Es sind stürmische Zeiten - die Wellen von Pandemie, globaler Erwärmung und Migration sind hoch und weitreichend. Vor allem: Sie alle sind von Dauer. Corona wird nicht so schnell verschwinden, ebenso wenig der Migrationsdruck. Und wir, deren Komfortzone bereits etwas weniger komfortabel geworden ist, müssen lernen, mit beidem - der Pandemie und den Neuankömmlingen - zu leben.

Selbstverständlich ist es unstatthaft, die Pandemie mit Einwanderern zu verglichen. Erstere ist eine schlimme Krankheit und Letztere sind gute Menschen, die ein besseres Schicksal suchen. Nur eines haben sie gemeinsam: Beide kommen in Schüben. Während wir mit 3G-Regeln und Impfungen beschäftigt sind, hat bereits die nächste größere Migrantengruppe - nunmehr über Belarus - den Weg nach Europa gefunden.

Die Wahl zwischen Dritter Welt und dritter Impfung

Über die nachvollziehbaren Motive der Einwanderer ist viel geschrieben worden. Niemanden verlässt leichtfertig die Heimat, die Landschaft der Familie und der Kindheit. Doch wenn nicht nur wenige, sondern Massen dies tun, ist deren Wirklichkeit offenbar unerträglich geworden. Die alten Mutterländer werden von Kriegen, Korruption, Unterdrückung und Gewalt gequält. Da ist es schwierig, der Anziehungskraft von Freiheit, Träumen und Hoffnungen zu widerstehen. Und am Ende ist die Wahl zwischen Dritter Welt und einer dritten Corona-Impfung dann doch leicht.

Oberrabbiner Pinchas GoldschmidtBild: picture-alliance/K. U. Heinrich

So klar die Motivation der Einwanderer ist - aber was ist mit unserer? Wissen wir, die Glücklichen, die in der Hemisphäre des Mitgefühls geboren wurden, was wir uns wünschen und was wir tun müssen? Der politische Populismus wird, wie üblich, einfache Wege bieten: Sperrt alles und jeden ein! Hoffentlich verschwindet dieser menschliche Missstand irgendwie von selbst. Ihre Politiker werden über ein "Europa für Europäer" sprechen, die Rassisten unter ihnen werden die "weiße Vorherrschaft" predigen, viele werden Angst vor den "Schwarzen" und "Südländern" verbreiten, die sich unsere "Frauen und Töchter" greifen wollten. Schließlich werden sich gehirngewaschene Schläger anstiften lassen, neue Grausamkeiten zu begehen.

Wird dieser Ansatz Einwanderer von den Ufern ihrer Hoffnung fernhalten? Wohl kaum, aber er wird zweifellos eine weitere Narbe von Gewalt und Rassismus in der Psyche des Westens hinterlassen, die sich noch nicht vollständig von den Gräueltaten und dem Unrecht der Vergangenheit erholt hat.

Abschied von monolithischen Lebenswelten

Es geht auch anders. Wenn wir den zivilgesellschaftlichen, religiösen und privatwirtschaftlichen Sektor umfassend mobilisieren, und eine Partnerschaft für eine bessere Welt eingehen. Die Menschheit braucht mehr nachhaltige Politik - sie ist heute beschäftigt mit Umweltfragen, im Kampf gegen die globale Erwärmung oder für mehr Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen der LGBT-Community, der Frauen oder der Hilflosen unter uns.

Die Welt heute braucht mehr denn je eine globale Wohlfahrtspolitik: eine absolute Aufmerksamkeit für die Qualität von Wasser, Luft, Nachhaltigkeit sowie die Einzigartigkeit sowie jedes Menschen. Darüber hinaus faire Löhne und eine gute Gesundheitsversorgung in allen drei Welten - der Ersten, Zweiten und Dritten.

Und wir im Westen müssen verstehen, dass unsere Lebenswelt nie wieder monolithisch sein wird. Wir leben nicht länger in Gesellschaften, in denen jeder so ist wie wir und wir wie alle anderen sind. Unsere Welt und die unserer Kinder ist sehr vielfältig und bietet einen anderen, überraschenden kulturellen Reichtum, den wir so noch nie hatten. Einwanderer sind ein Segen. Einwanderer haben immer die Gesellschaften vorangetrieben, in denen sie ihre neuen Wurzeln gefunden haben - vom biblischen Josef in Ägypten bis hin zur US-Vizepräsidentin Kamala Harris im Weißen Haus. Millionen von Menschen der zweiten Generation machen überall Fortschritte und schaffen weiteren Fortschritt.

Modelle der gemeinsamen Existenz

Das alles geschieht nicht von selbst. Es kann das Ergebnis von erbitterten Kämpfen sein oder im Voraus geplante, verantwortungsvolle und werteorientierte Politik. Den Religionsgemeinschaften kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Und natürlich dem interreligiösen Dialog. Viele haben eine tiefe Angst vor der wachsenden Macht des Islam. Also seien wir ehrlich: Der Westen beruht im Wesentlichen auf einem Betriebssystem, das zwar christlichen Ursprungs, aber weitgehend säkular ist. Er hat nicht mehr das Rüstzeug, sich öffentlich mit Herausforderungen religiöser und erst recht nichtchristlicher Natur auseinanderzusetzen.

Dies ist die Zeit des Klerus sowie der geistlichen Frauen und Männer. Die Glaubensgemeinschaften dürfen hier nicht gleichgültig und unbeteiligt im Abseits stehen. Sie müssen neue Modelle der gemeinsamen Existenz anbieten. Nicht nur zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Herkunft, sondern auch ganz grundsätzlich zwischen Religionen und ihren Gläubigen einerseits und dem Staat und seinen Gesetzen andererseits.

Lassen wir uns nicht in die von so vielen erwarteten Konflikte treiben. Kirche, Moschee, Synagoge müssen im Zusammenspiel mit säkularen Parlamenten gemeinsame und zugleich geteilte Räume schaffen. Für diejenigen, die sowohl die Werte der liberalen Demokratien als auch die religiösen Traditionen und Bräuche respektieren und erhalten wollen. Es ist an der Zeit, dass Priester, Rabbiner und Imame dem Westen im Allgemeinen und Europa im Besonderen ein funktionierendes Modell der Freiheit, des Glaubens und der Sicherheit anbieten.

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt ist Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner (CER) und Initiator des neugegründeten Institute of Freedom of Faith and Security in Europe (IFFSE).

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