Aktionstage sind so eine Sache für sich. Die Aufmerksamkeit ist groß, so wie jetzt zum "Deutschen Diversity-Tag." Meistens bedeutet es, dass im restlichen Jahr nicht mehr darüber geredet wird, meint Sheila Mysorekar.
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Diversity ist keinesfalls ein Modethema für Sonntagsreden und Feiertage. Sondern Diversity, also Vielfalt, ist eine gesellschaftliche Realität. In Deutschland, in Europa, und in allen Ländern der Erde. Eine gesellschaftliche Realität, die oft ignoriert, problematisiert oder einfach wegdiskutiert wird.
Keine Gesellschaft der Welt ist eindimensional. Alt und jung, verschiedene Geschlechter; unterschiedliche ethnische Herkünfte, Religionen und Sprachen; verschiedene sexuelle Orientierungen, und eine ganze Bandbreite von Begabungen und Behinderungen. Eine unendliche Variation dessen, was Menschen sind und sein können. In der Vielfalt zeigt sich die Schönheit des menschlichen Lebens und der komplexe Reichtum von Kulturen.
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Vielfalt gab es schon immer
Aber genau das wird oft verneint. Deutschland und viele Länder Europas haben lange ein völkisches Verständnis von einer homogenen Bevölkerung gehabt; ein Selbstbild, das noch nie stimmte und jetzt schon gar nicht mehr zutrifft. Grenzen in Europa waren immer fluide; ihr Verlauf änderte sich häufig, und Menschen zogen in allen Zeiten quer durch Europa, siedelten sich an, zogen weiter in andere Kontinente, und Menschen aus anderen Kontinenten kamen nach Europa. Das war so in der Steinzeit, es war so im Mittelalter, und es ist auch heute so. Deutschland und Europa waren schon immer vielfältig.
Dennoch versuchen manche Politiker*innen, Stimmen zu gewinnen, indem sie gegen Minderheiten aufhetzen -gegen ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten. Und leider funktioniert es, sowohl in Europa wie auch in anderen Kontinenten. Selbst Länder, die schon immer multikulturell waren, wie etwa Ungarn oder Indien, verfolgen eine gefährliche Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung.
Vielfältige Teilhabe macht eine Gesellschaft aus
Umso erfreulicher, dass die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag klar gesagt hat: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Damit hat sie offiziell gemacht, was ohnehin schon lange eine Realität ist. Dieses Bekenntnis allein verschafft jedoch noch nicht allen Menschen gleiche Chancen auf Teilhabe. So etwa sind marginalisierte Gruppen aus Bereichen wie Justiz, Politik oder höhere Bildung weitgehend ausgeschlossen. Benachteiligungen aufgrund von Herkunft oder sozioökonomischem Hintergrund sind an der Tagesordnung, zum Beispiel auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt.
Bundestag: Gesichter des Parlaments
Nun wird es Ernst für die neuen Parlamentarier und Parlamentarierinnen: Der neu gewählte Bundestag tritt zum ersten Mal zusammen. Dabei gibt es einige neue und alte Abgeordnete, die es sich lohnt, näher anzuschauen.
Bild: CSU
Ein jüngeres Parlament
Vor einem Monat hat Deutschland einen neuen Bundestag gewählt. Ein Ergebnis der Wahl: Die 736 Abgeordneten, die nun ins Parlament einziehen, sind im Schnitt jünger als der vorherige Bundestag. Die Jüngsten sind die 23-jährigen Emilia Fester (Foto) und Niklas Wagener von den Grünen. Insgesamt ist das Durchschnittsalter der Abgeordneten gesunken. 47 Abgeordnete sind jünger als 30 Jahre alt.
Bild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance
Der durchschnittliche Abgeordnete
In gleich mehrfacher Hinsicht ist der CDU-Abgeordnete Michael Brand der Prototyp eines Parlamentariers. Mit seinen 47 Jahren liegt Brand exakt im Durchschnittsalter der Abgeordneten. Sein Studium der Politik- und Rechtswissenschaft ist unter den Abgeordneten überproportional vertreten. Zudem kommt sein Vorname Michael am häufigsten im Parlament vor.
Bild: HMB Media/Mueller/picture alliance
Alt aber ohne Altersamt
Weit über dem Durchschnitt liegt der älteste Abgeordnete: der 80-jährige AfD-Politiker Alexander Gauland. Bis vor vier Jahren wäre der Rechtspopulist als lebensältestes Mitglied automatisch Alterspräsident des Bundestags geworden und hätte die erste Sitzung des neugewählten Parlaments eröffnet. Doch seit 2017 wird Alterspräsident, wer am längsten im Parlament dient. Und das ist CDU-Mann Schäuble.
Bild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance
Weibliche Verstärkung
Der Bundestag wird nicht nur insgesamt jünger, sondern auch etwas weiblicher. Vier Prozent mehr Frauen sind nun vertreten, besonders viele bei den Linken und den Grünen. Mit Tessa Ganserer (44) und Nyke Slawik (27) ziehen auch erstmals zwei Transfrauen in den Bundestag ein. "Unser Trans-Wahlerfolg geht um die Welt", twitterte Slawik und bedankte sich für Glückwünsche aus verschiedenen Ländern.
Unterschiedliche Migrationsgeschichten
Auch in Bezug auf die Herkunft wird der neue Bundestag diverser. Es gibt mindestens 83 Abgeordnete mit einer Migrationsgeschichte, vor allem bei den Linken und der SPD. Rasha Nasr (29) hat gleich mehrere Diversitätsmerkmale in ihrer Biografie. In Dresden geboren, vertritt sie im Bundestag auch die ostdeutschen Bundesländer. Ihre Eltern sind zu DDR-Zeiten von Syrien nach Dresden ausgewandert.
Bild: SPD
Afrodeutsche vertreten
Mit Awet Tesfaiesus, Armand Zorn (Foto) und Karamba Diaby ziehen auch drei Afrodeutsche in den Bundestag ein. Der SPD-Politiker Zorn ist in Kamerun geboren und kam mit zwölf Jahren nach Deutschland. Dass er ein Direktmandat holen konnte, mache ihn zuversichtlich: "Es zeigt, dass unsere Gesellschaft eine diverse Gesellschaft ist, wo es nicht drauf ankommt, woher du kommst, sondern wohin du gehst."
Bild: Sebastian Gollnow/dpa/picture-alliance
Studiert statt ausgebildet
Beruflich gesehen geht es im Bundestag weniger divers zu. Die Mehrheit der Parlamentarier hat studiert. Kaum einer kann hingegen eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen. Gülistan Yüksel (59, SPD) gehört zu dieser Minderheit. Sie ist gelernte Apothekenhelferin. Die Tochter eines Gastarbeiters kam Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland und zog 2013 zum ersten Mal in den Bundestag ein.
Bild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance
Unternehmer eine Rarität
Ebenso unterrepräsentiert wie Menschen mit einer Berufsausbildung sind selbstständige Unternehmer. Nur 51 davon sitzen im Parlament, weniger als zuvor. Die liberale FDP stellt die meisten, Kristine Lütke ist eine von ihnen. Die Familie der 38-Jährigen betreibt in zweiter Generation eine Seniorenbetreuung. Die Politikerin setzt sich für eine flächendeckende Pflege-Versorgung ein.
Bild: FDP/Heidrun Hoenninger
Gesundheitsexperten trotz Corona Mangelware
Gerade der Bereich Gesundheit ist mit der Corona-Pandemie in den Fokus gerückt, auch des Parlaments. Doch der Sektor ist unterrepräsentiert. Es gibt nur eine Handvoll Abgeordnete, die Ärzte oder Pfleger sind. Der CSU-Parlamentarier Stephan Pilsinger ist zugelassener Hausarzt. Nach seiner Wahl möchte der 34-Jährige weiterhin als Arzt arbeiten - um den Bezug zum Praxis-Alltag nicht zu verlieren.
Bild: CSU
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Das muss nicht so bleiben. Wir sind alle in der Pflicht, eine vielfältige Teilhabe durchzusetzen. Um als Gesellschaft zukunftsfähig zu sein, braucht jedes Land alle seine Bewohner*innen. Die Diversität der Menschen und ihrer Kompetenzen ist genau das, was in einer schwierigen Zukunft notwendig ist. Und ohnehin haben alle das Recht - das Menschenrecht! - auf Teilhabe und Mitgestaltung der Gesellschaft, in der sie leben.
Die Konzentration von Macht in den Händen weniger, sehr homogener Gruppen hat diesen Planeten ruiniert. Die soziale Ungleichheit wird weltweit immer größer; Millionen Menschen hungern, und der Klimawandel hat die Umwelt an gefährliche Kipppunkte gebracht. Wenn wir als Menschheit überleben wollen, in einer besser gestalteten Welt, dann kann das nur geschehen, wenn alle einbezogen werden. Mit einer gemeinsamen Vision der Zukunft.
Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der "neuen deutschen organisationen", einem bundesweiten Zusammenschluss von postmigrantischen Initiativen gegen Rassismus und für Vielfalt.