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Dostojewskij - Sezierer der menschlichen Seele

Viktor Jerofejew
11. November 2021

Fjodor Dostojewski ist 200 Jahre nach seiner Geburt aktuell wie nie zuvor. Das meint jedenfalls der Autor Viktor Jerofejew über seinen berühmten Landsmann.

Dostojewski Denkmal in Moskau - steinerne Figur vor grauem Winterhimmel und kahlen Bäumen
Das Dostojewski-Denkmal in Moskau vor dem Geburtshaus des Dichters stammt aus dem Jahr 1918Bild: picture alliance/akg-images

Im Gegensatz zu Lenin, dem die Kommunisten ewiges Leben verhießen und den sie "lebendiger als alle Lebenden" nannten, wurde Dostojewskij, geboren am 11. November 1821, wie in einer Zeitmaschine in die Zukunft katapultiert - direkt zu uns.

Dostojewski: dem "Übermenschen" auf der Spur

Fangen wir damit an, dass Dostojewski das zentrale Thema des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt - den Übermenschen. Ein Thema, präsent in der Philosophie von Friedrich Nietzsche, Oskar Spengler oder Lew Schestow, in der Prosa von Albert Camus, Thomas Mann und vielen anderen. Als politische Erscheinung fand der Übermensch seine finstere Entsprechung im Nazismus und in der kommunistischen Utopie eben dieses erwähnten Lenin.

Der russische Schriftsteller Viktor JerofejewBild: picture alliance/ROPI/A. Weise

Eine andere kolossale Leistung Dostojewskijs ist die Entfaltung des ewigen Themas "Glauben und Unglauben" in seinen Büchern. "Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt", lautet eine seiner Thesen und so beschreitet er den Weg vom Unglauben ins wilde Reich des Absurden.

Das Werk Dostojewskijs hat das 20. Jahrhundert überholt. Es ist in unserer Zeit als prophetische Warnung vor dem Triumph der Entropie durch die Schwächung kultureller Werte, durch den Verlust der Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu erkennen, angekommen. Verdummung, Vereinfachung, Tanz des Zynismus und des Wahnsinns, alles, was sich im Zirkel von Pjotr Werchowenskij im Roman "Die Dämonen" abspielt, ist weitgehend im 21. Jahrhundert Realität geworden.

Der Zerfall gemeinsamer Werte hat in beträchtlichem Ausmaß sowohl den Osten als auch den Westen paralysiert. Zusammen mit Dostojewskij lieben wir nach wie vor die "alten Steine Europas", wie es bei ihm zu lesen steht. Doch mit den heutigen Steinen lässt sich offenbar nur schwer der Weg eines akzeptablen Fortschritts pflastern.

"Mag die Welt untergehen, aber ich will jetzt meinen Tee trinken."

Dostojewskij richtete seine Werke in so erstaunlicher Weise auf die Zukunft aus, dass seine Figuren quasi das heutige Russland bevölkern. Jetzt treibt sich hier eben jener Pjotr Werchowenskij herum. Arm in Arm mit seinen feinen Freunden genießt er in der Politik höchste Weihen. Unter uns ist auch Rodion Raskolnikow (Hauptheld des Kultromans "Schuld und Sühne"), hin- und hergerissen zwischen Glück und illegaler Bereicherung. Und schließlich ist da noch der namenlose Held der "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch". Er ist ja der erste europäische Existenzialist, von dem die Idee herrührt, das sich der Mensch durch das in ihm wohnende Böse in ein Tier verwandelt. "Mag die Welt untergehen, aber ich will jetzt meinen Tee trinken." Ist es nicht diese Formel, die zum heutigen russischen Autoritarismus passt?

Aktueller denn je: "Schuld und Sühne" in einer Inszenierung des Deutschen Schauspielhauses HamburgBild: Klaus Lefebvre/Deutsches Schauspielhaus, Hamburg

Dostojewskij schreibt im "Tagebuch eines Schriftstellers", das Böse liege tiefer als es diese "sozialistischen Wunderheiler" annähmen. Der Gedanke ist hochaktuell. Bevor du gegen das äußere Böse kämpfst, erkenne dich selbst und prüfe, ob nicht eine Degenerierung deiner eigenen Seele im Gange ist, die schließlich Macht und Straffreiheit mehr liebt als humane Ziele.

Dostojewskijs Leben: ein Bündel von Leiden

Dostojewskijs Leben - das ist ein Bündel voller Leiden. Es beginnt als junger Sozialist, Bewunderer Schillers und leidenschaftlicher Humanist. Er ist gerade 22 Jahre alt, als er seinen ersten Roman "Arme Leute" schreibt. Ein Roman über den "kleinen Mann" ist eine Neuerung in der russischen Literatur. Fjodor ist gerade 28, als er wegen der Beteiligung an dem revolutionären Petraschwski-Zirkel verhaftet wird. Nach einer ungeheuerlichen öffentliche Scheinhinrichtung wird Dostojewskij für eine Lappalie zur Höchststrafe verurteilt - auch im heutigen Russland keine Seltenheit.

Die nicht vollzogene Erschießung löst einen Schock aus - in letzter Minute wird Dostojewski von Nikolajs I. begnadigt und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Der Unglücksschläge nicht genug: Dostojewski leidet sein Leben lang schwer an Epilepsie, hat ein unglückliches Liebesverhältnis mit der schönen, aber launenhaften, viel jüngeren Nihilistin Polina Suslowa und ist lange Jahre ein besessener Spieler.

Fjodor Michailowitsch DostojewskiBild: picture alliance

Genialer Schriftsteller jenseits der Politik

Als Zar Alexander II. den Thron besteigt, die Leibeigenschaft beendet und zahlreiche notwendige Reformen im Land verspricht, wendet sich Dostojewskij gegen die liberale Strömung. Es scheint, als hätte er im neuen Reformertum die Revolution von 1917 vorausgesehen.

Wie auch immer man den "politischen" Dostojewskij dreht und wendet, in seiner Prosa bleibt er ein Genie - gerade des freien Wortes. Ich würde Dostojewskij als Sezierer der lebendigen menschlichen Seele bezeichnen. Er durchtrennte die Seele regelrecht mit einem verbalen Skalpell, um ihr Wesen zu verstehen. Damit half und hilft er vielen Generationen von Lesern, über den Sinn des Lebens nachzudenken, und diesen vielleicht sogar zu erkennen. Damit hilft er uns heute und künftig unseren Nachfahren, "im Menschen den Menschen" zu finden.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, ist ein russischer Schriftsteller. 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband der Sowjetunion ausgeschlossen. International bekannt wurde er 1990 mit dem Roman "Die Moskauer Schönheit", der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt in Moskau und äußert sich regelmäßig kritisch zur Politik Wladimir Putins.

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