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PolitikAsien

Europas neue Partner könnten in Zentralasien liegen

Kommentarbild Oliver Rolofs
Oliver Rolofs
4. September 2022

Der russische Präsident Wladimir Putin versucht, die imperialistischen Ambitionen seines Landes mit militärischer Aggression wiederzubeleben. Europa hat die Möglichkeit, dieser Bedrohung zu begegnen, meint Oliver Rolofs.

Bei der Ausbeutung der Öl- und Gasreserven in Zentralasien (hier: Kirgistan) gibt es noch viel Luft nach obenBild: Zuma/imago images

Um sich vor den Folgen des russischen Expansionismus zu schützen, muss Europa mit einer neuen, proaktiven geopolitischen Strategie reagieren - mit einer Strategie, die über den bisherigen Einflussbereich der Europäischen Union hinausgeht. Die vielbeachtete Prager Rede von Bundeskanzler Scholz in der vergangenen Woche und seine Vision einer erweiterten, informellen "Europäischen Politischen Gemeinschaft" unterstreichen dieses Gebot.

Ob durch diesen oder andere Mechanismen - die Notwendigkeit eines stärkeren Engagements und einer Annäherung an ein breiteres Spektrum von Ländern außerhalb Europas ist in den vergangenen Monaten mehr als deutlich geworden. Die EU und Deutschland müssen sich darum bemühen, vielfältige und solide Allianzen in der ganzen Welt aufzubauen, nicht nur in ihrem unmittelbaren Einflussbereich.

Unbestreitbarer Wandel in Zentralasien

Die in dieser Hinsicht vielleicht interessanteste Region hierfür ist Zentralasien. Keiner der zentralasiatischen Staaten unterstützt Russlands Krieg in der Ukraine. Zwar vermeiden sie  eine offene Kritik an Moskau, doch genauso wenig haben sich die zentralasiatischen Staatsoberhäupter öffentlich hinter Putins Krieg gestellt. Keines der fünf Länder hat gegen die Resolution gestimmt, mit der im März dieses Jahres die russische Invasion in der UN-Generalversammlung mit großer Mehrheit verurteilt wurde.

DW-Gastkommentator Oliver RolofsBild: Privat

Einige von ihnen sind noch weiter gegangen - sie haben humanitäre Hilfe in die Ukraine geschickt, Anti-Kriegs-Proteste zugelassen und auf die Desinformationen des Kremls mit Dementis reagiert. Auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum Ende Juni stellte der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew in Anwesenheit von Wladimir Putin klar: Sein Land werde eine Unabhängigkeit der "quasistaatlichen Gebiete Donezk und Luhansk", wie er es ausdrückte, nicht anerkennen. Eine mutige Aussage, nachdem Tokajew knapp fünf Monate zuvor noch russische Truppen als Teil des von Moskau angeführten Militärbündnisses "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS) infolge von Unruhen nach Kasachstan gerufen hatte.

In der Region hat sich ein unbestreitbarer Wandel vollzogen, der dem Westen und insbesondere Europa eine Chance bietet. In den kommenden Monaten und Jahren kann die EU daher große Fortschritte bei der Verwirklichung mehrerer ihrer außenpolitischen Ziele machen. In erster Linie würde ein verstärktes Engagement mit den Staaten Zentralasiens die Unabhängigkeit und Sicherheit der Region gegenüber externen Aggressoren rasch verbessern.

Partnerschaft zum gegenseitigen Nutzen

Entscheidend ist jedoch, dass die Region nicht als bloßer Spielball geopolitischer Ambitionen eines europäischen oder westlichen Bündnisses behandelt werden sollte. Jede Strategie zur Stärkung des europäischen Einflusses in der Region muss in erster Linie auf gegenseitigen Nutzen ausgerichtet sein, vor allem durch wirtschaftliches Engagement. Europa muss sich aus einer pragmatischen Perspektive heraus als der attraktivste Partner für die Region darstellen.

Der offensichtlichste Bereich von gemeinsamem Interesse ist die künftige Energieversorgung. Hier müssen die Möglichkeiten verbessert und Kapazitäten ausgebaut werden, mehr Öl und Gas aus der Region zu importieren, die so als Alternative zu Russland zu einem wichtigen Energielieferanten werden könnte. Gegenwärtig werden diese Möglichkeiten jedoch durch eine übermäßige Abhängigkeit von der russischen Pipeline-Infrastruktur eingeschränkt.

Abgesehen vom Pragmatismus könnten schließlich auch die "sanfteren" Auswirkungen eines verstärkten europäischen Einflusses denjenigen zugutekommen, die einen echten Wandel in der Region anstreben, indem sie die europäischen Ziele in den Bereichen Demokratie, verantwortungsvolle Staatsführung und Nachhaltigkeit vorantreiben und gleichzeitig eine weitere soziale Entwicklung fördern.

Ermutigende Reformansätze

Einige Staaten in der Region sind bereits viel weiter als andere. Erst diese Woche kündigte der kasachische Präsident neben Neuwahlen ein erweitertes Reformprogramm an, einen Fahrplan für die Umsetzung seiner Vision eines "neuen Kasachstan", die er nach den Protesten im Januar vorgestellt hatte.

Bisher gibt es keine optimale Anbindung der kasachischen Ölreserven in Richtung Europäische Union

Seit der Überwindung der inneren Unruhen, mit denen sein Land konfrontiert war, hat Tokajew damit begonnen, das politische System des Landes durch eine neue, fortschrittliche Verfassung umzugestalten, die konkrete Schritte zur Einschränkung der Macht des Präsidenten, zur Verlagerung von Regierungsbefugnissen, zur Umgestaltung des Strafrechtssystems und zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vorsieht. 

Auch in Kirgisistan vollzieht die Regierung eine weitere Annäherung an den Westen, indem sie ermutigende Zeichen setzt und allmählich Reformen in Angriff nimmt, auch wenn ihre eigenen, neu aufgelegten Verfassungsreformen den gegenteiligen Ansatz wie in Kasachstan verfolgen: eine Stärkung der Macht des Präsidenten, statt sie zu dezentralisieren.

Abhängigkeit von Russland und China beenden

Zentralasien ist natürlich keine Region, die in Bezug auf demokratische Freiheiten oder Menschenrechte führend ist. Doch trotz der autoritären Tendenzen und Einflüsse externer Mächte in der Region sind spürbare Fortschritte zu verzeichnen. Wenn es Europa wirklich gelingt, sich als wichtiger Einflussfaktor in der Region zu etablieren, dann deuten alle Anzeichen auf eine Fortsetzung dieses Trends hin. Wenn die Abhängigkeit von Russland oder China anhält, sind die beginnenden Reformen hingegen gefährdet.

Die eigentliche Frage wird sein, ob die europäischen Entscheidungsträger die Weitsicht und vor allem den politischen Willen haben, sich substanziell in der Region zu engagieren. Mit dem nötigen Ehrgeiz und den erforderlichen Ressourcen könnten sich solche neuen Partnerschaften für Europa als chancenreich und vorteilhaft erweisen.

Oliver Rolofs ist Sicherheitsexperte und war langjähriger Kommunikationschef der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er das Programm für Energiesicherheit aufbaute.

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