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Politik

Haben Juden eine Zukunft in Europa?

DW Interview - Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt
Pinchas Goldschmidt
26. Januar 2020

75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird jüdisches Leben in Europa von neuen Herausforderungen bedroht, meint der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt.

76 Jahre sind vergangen, seit meine Urgroßeltern Jacob und Mariam Schwartz in einem Viehwaggon von Ungarn nach Auschwitz-Birkenau gebracht wurden. An einem klaren Sommertag im Mai 1944, hungrig und durstig, verängstigt und verdreckt nach einer dreitägigen Zugfahrt, hat man sie in die Gaskammern getrieben und dann eingeäschert. Unter den 400.000 ungarischen Juden, die in Auschwitz ermordet wurden, befanden sich Dutzende Mitglieder der Familie meiner Mutter - Männer, Frauen und Kinder.

Nicht einmal ein Jahr später wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Aber die Soldaten haben nur sehr wenige Überlebende vorgefunden. Fast alle Häftlinge waren getötet worden - in den Gaskammern, durch Krankheiten und Todesmärsche.

Vom Holocaust geprägt

Für mich, als Vorsteher einer jüdischen Gemeinde sind das nicht nur historische Fakten. Die Menschen um mich herum, diejenigen, die in meiner Synagoge beten, sich hier versammeln, eine Bar Mitzwa feiern oder ein Familienmitglied betrauern, sind die Verwandten von Menschen wie Jakob und Mariam Schwartz. Die heutige europäische jüdische Gemeinde ist vom Holocaust geprägt.

Auschwitz - das Synonym für den industriell betriebenen Massenmord an den Juden EuropasBild: DW/M. Heuer

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war ein großer Teil der Holocaust-Überlebenden der Überzeugung, dass es in Europa keine Zukunft für Juden geben könne. Die Mehrheit emigrierte nach Palästina, um ein Teil des neuen jüdischen Staates zu sein, in dem Juden immer willkommen sein würden. Andere wanderten nach Amerika aus. Nur eine Minderheit blieb in Europa und hielt an der Hoffnung fest, dass sie hier wieder eine jüdische Zukunft schaffen könnten.

Fast ein halbes Jahrhundert lang war Europa zwischen Ost- und Westeuropa getrennt - der Eiserne Vorhang teilte den Kontinent und auch seine Juden. In den meisten Ländern Westeuropas wurde das jüdische Leben mit Überlebenden und Neuankömmlingen neu aufgebaut. Im Osten gab es allein in Rumänien eine funktionierende jüdische Gemeinde - dank der Fähigkeiten ihres Oberrabbiners Moses Rosen, der mit dem kommunistischen Regime einen Handel abschließen und seiner Gemeinde die Religions- und Auswanderungsfreiheit sichern konnte.

Die Europäische Union - eine Versammlung von Minderheiten

In Europa zu bleiben, blieb stets eine individuelle, auf persönlichen Umständen beruhende Entscheidung. Wer sie als Jude traf, hoffte auf eine bessere Zukunft in der angestammten Heimat. Die neuen Strukturen und Werte, die hier entwickelt wurden, versprachen eine Zukunft ohne Kriege, Pogrome und Antisemitismus. Die heutige Europäische Union wurde gegründet als Wirtschaftsunion - mit dem zentralen Ziel, die ständigen Kriege und die Konkurrenz zwischen den Großmächten zu beenden.

Die Europäische Union, so hat es der frühere EU-Kommissionspräsident Romano Prodi einmal gesagt, ist eine Versammlung von Minderheiten. Das hat den Juden Europas möglich gemacht, sich an diesem Integrationsprozess zu beteiligen - nicht als Außenseiter, sondern als vollwertige Bürger Europas.

Die Choral-Synagoge in Moskau - Wirkungsstätte von Oberrabbiner Pinchas GoldschmidtBild: DW/A. Khan

Die Realität heute zeigt jedoch, dass das europäische Projekt nicht alle Ziele erreicht hat. Wir sind mit Antisemitismus konfrontiert wie eh und je. Seit 15 Jahren trifft der Terrorismus immer wieder Europa - und insbesondere die europäischen Juden: Viele der kleineren Anschläge in unterschiedlichen europäischen Ländern blieben fast unbemerkt. Inzwischen ist der Antisemitismus an drei Fronten immer stärker präsent: an der extremen Rechten, an der extremen Linken und auch durch den islamischen Fundamentalismus.

Bleibt Europa ein Ort für alle Menschen?

Leider müssen sich die Juden in Europa seither erneut fragen, ob es für sie eine Zukunft auf dem Kontinent gibt. Erst Jahre nach den ersten Anschlägen auf jüdische Stätten, als islamische Terroristen mit den tödlichen Angriffen auf die Redaktion von Charlie-Hebdo und einen Konzertsaal in Paris die europäischen Werte Journalismus und Kultur ins Visier nahmen, reagierte Europa. Man begann die Sicherheitsstrukturen gemeinsam zu koordinieren, um wieder mehr Sicherheit auf die Straßen Europas zu bringen. Einige europäische Staaten reagierten darüber hinaus mit Gesetzen gegen religiöse Minderheiten. Davon waren auch traditionelle und grundlegende jüdische Praktiken wie das Schächten sowie Beschneidungen betroffen, was für die Juden Europas neue Fragen hinsichtlich der Möglichkeit ihres Bleibens aufwarf.

Wir sind uns alle einig, dass Europa wieder ein sicherer Raum werden muss. Das ist ein Problem nicht allein für die Juden in Europa, sondern für Europa selbst. Aber eine jüdische Zukunft in Europa hängt davon ab, ob Europa in der Lage sein wird, Sicherheit zu gewährleisten und eine gemeinsame Identität zu stärken, um weiterhin ein Ort für ALLE Menschen sein - egal an wen oder was sie glauben, sowie auch für die, die nicht glauben.

Seit mehr als 1700 Jahren ist die jüdische Gemeinschaft ein integraler Bestandteil der europäischen Geschichte und Europa hat stets davon profitiert. Unser Auftrag ist klar: Wir wollen gemeinsam eine Zukunft aufbauen. Denn wir sind hier, um zu bleiben. Wir hoffen, dass wir das können.

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt ist seit 2011 Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER)

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