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Politik

Es reicht!

DW Moderator Michel Friedman (Auf ein Wort…)
Michel Friedman
28. März 2018

Der Mord an der greisen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in Paris schockiert Europa. Doch überraschen kann die Tat niemand, denn der Antisemitismus ist allgegenwärtig auf unserem Kontinent, meint Michel Friedman.

Es reicht!

Merkt denn keiner, wie weit wir die Anfänge schon hinter uns gelassen haben, derer wir uns doch alle gemeinsam erwehren wollten? Wir sind längst mittendrin im europäischen Antisemitismus, im Judenhass in Europa!

Der Eingang zur Wohnung von Mireille Knoll, in der sie am 23. März umgebracht wurdeBild: Reuters/C. Achi

Beispiele gibt es genug: Paris, wo eine Holocaust-Überlebende bestialisch ermordet wurde, weil sie jüdischen Glaubens war. Großbritannien, wo die Labour-Party von antisemitischen Skandalen erschüttert wird und der Vorsitzende nichts dagegen tut. Ungarn, wo Ministerpräsident Orbán über eine angebliche Verschwörung des Juden George Soros schwadroniert. Polen, das verzweifelt versucht, sich zum Unschuldslamm zu erklären, was seinen Antisemitismus vor, während sowie nach dem Holocaust und bis heute angeht. Österreich, wo Rechtsextreme in der Regierung ihr Unwesen treiben und der herrschende Kanzler Kurz sie aus Machtkalkül salonfähig macht. Antisemitismus ist anscheinend wieder legitimiert und durch Wahlen legalisiert.

Es reicht!

Und ja - auch in Deutschland. Hier müssen schon seit Jahrzehnten jüdische Schulen, Kindergärten und Gemeindezentren vor alten und neuen Nazis beschützt werden. Politiker der AfD bezeichnen das Holocaust-Mahnmal als "Mahnmal der Schande" und wollen die Erinnerungskultur umschreiben. Und diese AfD, eine rechtsextreme Partei mit rassistischen und antisemitischen, nicht zu überhörenden Parolen, ist erstmals in den Bundestag gewählt worden.

An jedem Wochenende werden gegnerische Fußball-Mannschaften auf dem Platz als Juden beschimpft - und kaum jemanden regt das auf. Es werden Judenwitze erzählt, und obwohl sie nie witzig sind, wird trotzdem gelacht. Und wiederum regt sich kaum jemand auf. Jüdische Friedhöfe werden regelmäßig geschändet. Und im Internet toben Hass, Verachtung und geistige Brandstiftung.

Synagogen in Deutschland müssen schon seit Jahrzehnten von der Polizei beschützt werdenBild: picture-alliance/dpa/Maurizio Gambarini

Es reicht!

Nicht nur in der digitalen, sondern auch in der realen Welt erlebt man ungehemmte, unverschämte Menschenhasser - seit Jahrzehnten schon. Jene, die sagen, dass dieses oder jenes doch einmal gesagt werden müsse und die dann nur blanken Hass, verbale Gewalt, Antisemitismus und Rassismus ausspucken. Doch genau dafür gibt es keine Rechtfertigung und kann es deswegen auch kein Verständnis geben - auch nicht unter dem Stichwort "Protestwähler".

Der strukturelle, ganz alltägliche Antisemitismus ist zur Gewohnheit geworden. Und genau das ist das Allerschlimmste: Nichts bringt uns mehr aus der Ruhe. Wir sind abgestumpft. In den täglichen Erregungsspiralen moderner Medienberichterstattung haben wir uns an viel zu viel gewöhnt. Aber weil wir auf keine Zumutung mehr reagieren, verstricken wir uns. Werden wir zu Komplizen der Täter.

Es reicht!

Richtig ist auch: Zum rechten braunen sowie zum linksextremen Judenhass in Europa ist seit einigen Jahren ein Antisemitismus aus radikalen Teilen der muslimischen Welt hinzugekommen. Er ist scheinbar gegen Israel gerichtet, aber seine Wucht und Härte trifft grundsätzlich alle Juden, ganz egal wo sie leben. Seit Jahren wird vor dieser Entwicklung gewarnt. Seit Jahren berichten Betroffene von ihren Erfahrungen in deutschen Schulen und der schwachen Reaktion der Verantwortlichen.

In Berlin-Neukölln entzündeten Migranten im Dezember eine selbst gemalte israelische FlaggeBild: picture alliance/dpa/Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.

Seit Jahren erlebt man die offene Aggression in kleinen, aber wachsenden Teilen der muslimischen Communities hierzulande. Seit Jahrzehnten überlässt der deutsche Staat sehenden Auges die Jugend dort aggressiven und demokratiefeindlichen Imamen aus Saudi-Arabien oder der Türkei und tut scheinheilig überrascht, wenn genau diese Jugendlichen sich anschließend radikalisieren.

Auch ein Teil der Flüchtlinge ist judenfeindlich. Sie kommen aus arabischen Diktaturen, die ihrer Bevölkerung einhämmern, Israelis und Juden müsse man hassen. Das ist jedoch allenfalls eine Erklärung, aber keine Entschuldigung.

Es reicht!

Von den Eliten Deutschlands kommen die immer wiederkehrenden Solidaritätsbekundungen, die dann doch nichts verändern. Oder die mit Plattitüden wie "Keine Toleranz gegenüber Intoleranz" nur für ihre eigene Entlastung sorgen.

"Lass nicht zu, dass am Ende Soros lacht!" ließ die ungarische Regierung im ganzen Land plakatierenBild: AFP/Getty Images

In den Kitas oder den Schulen wird das Personal nicht aufgestockt. Lokalpolitiker verharmlosen regelmäßig die Gefahr des braunen Mobs, um ihre Region vor dem schlechten Ruf zu schützen; als wäre dies nicht schon längst der Fall, wenn - wie im sächsischen Freital - der rechte Terror herrscht. Und Polizei, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutz versagen nicht nur im Fall NSU, sondern in Sachsen auch während der Pegida-Demonstrationen sowie in vielen anderen Momenten.

Judenhass ist Menschenhass

Es geht gar nicht primär um Solidarität mit den Juden, sondern um Engagement für alle und alles, was dieses freie Land ausmacht. Was muss eigentlich noch alles passieren, damit endlich gehandelt wird? Wie viele Sonntagsreden mit "nie wieder" oder "wehret den Anfängen" können noch gehalten werden, ohne dass die Redner vor Scham verstummen, wenn sie danach zwischen Montag und Samstag tatenlos allen Veränderungen zusehen?

Die Täter verachten Demokratie, Pluralismus, Freiheit, Emanzipation und Aufklärung.

Brennen wir eigentlich ausreichend für diese Werte? Verteidigen wir sie mit Verstand und Leidenschaft? Oder sind die Hassenden nur deshalb so laut, weil die anderen zu leise sind?

Ich schreibe das alles nicht, weil ich Jude, sondern weil ich Mensch bin. Ein Mensch wie Sie, die diesen Text lesen. Ich mache mir Sorgen. Auch um Sie.

Es reicht!

Michel Friedman ist Jurist, Publizist und Fernsehmoderator. An der Frankfurt University of Applied Sciences ist er Professor für Immobilien- und Medienrecht. Bei der Deutschen Welle moderiert er die Talk-Formate "Conflict Zone" und "Auf ein Wort... mit Michel Friedman".

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