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Jörg Himmelreich Kommentarbild App PROVISORISCH
Jörg Himmelreich
20. November 2021

Die Erdgas-Pipeline auf dem Boden der Ostsee ist seit Anfang September fertig gebaut. Doch die Genehmigung für ihren Betrieb wird noch mehrere Monaten auf sich warten lassen. Das ist eine Chance, meint Jörg Himmelreich.

Im Hintergrund steht immer der Gazprom-Konzern - ganz gleich wie die Nord Stream 2 AG sich strukturiertBild: Jaap Arriens/NurPhoto/picture alliance

Die Mitteilung der Bundesnetzagentur, das Verfahren zur Zertifizierung der Nord Stream 2 AG als "unabhängiger Transportnetzbetreiber" vorläufig auszusetzen, kam selbst für den an vielfältige Überraschungen gewohnten Beobachter dieses Verfahrens überraschend. Mit dieser Zertifizierung muss die Agentur bestätigen, dass die Erdgas-Leitung durch die Ostsee den Voraussetzungen im regulierten EU-Gasmarkt genügt, hier insbesondere der Entflechtung des Betriebs der Pipeline vom Handel mit Erdgas.

"Die Bundesnetzagentur ist nach eingehender Prüfung der Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Zertifizierung eines Betreibers der Leitung Nord Stream 2 nur dann in Betracht kommt, wenn der Betreiber in einer Rechtsform nach deutschem Recht organisiert ist”, so die Mitteilung.

Behutsame Annäherung an ein hochexplosives Thema

Diese Begründung überrascht dann gleich in zweierlei Hinsicht: Die Tatsache, dass es sich bei Nord Stream 2 nicht um eine deutsche, sondern um eine AG nach Schweizer Recht mit Sitz in Zug handelt, war ja schon seit ihrer Gründung vor sieben Jahren bekannt. Dann hätte man das offiziell am 8. September eröffnete Zertifizierungsverfahren gar nicht erst beginnen müssen, sondern direkt auf diesen Missstand verweisen und den Antrag ablehnen können. Dass dem nicht so war, sondern dies erst einmal mehr als acht Wochen geprüft wurde, offenbart, wie behutsam sich die Bundesnetzagentur dem in europapolitischer, energiewirtschaftlicher und eben auch rechtlicher Hinsicht so hochexplosiven Thema nähert.

Jörg Himmelreich ist Jurist und PolitikwissenschaftlerBild: privat

Zweite Überraschung: Auch die Begründung, dass nur ein Betreiber in einer Form des deutschen Gesellschaftsrechts am Wettbewerb des EU-Gasbinnenmarkts teilnehmen und ein entsprechendes Zertifizierungsverfahren beantragen könne, stellt eine durchaus kreative Rechtsinterpretation dar. So entpuppt sich diese geschickte Verfahrensvolte am Ende als ein diplomatisches Angebot an die Nord Stream 2, das Kernhindernis für deren Betriebsgenehmigung, nämlich die Entflechtung, aus dem Wege zu räumen. In Zukunft wird also irgendwann der Netzbetrieb in neuer deutscher Rechtsform formalrechtlich getrennt von dem Vertrieb durch die Schweizer Nord Stream2-Gesellschaft sein.

Neben dieser formalen Entflechtung müsste aber auch die Unternehmensführung selbst entflochten werden. Gazprom ist ein mehrheitlich russisches Staatsunternehmen und ein wichtiges Instrument in Putins Werkzeugkasten, russische Machtinteressen auch außerhalb des Gasmarktes in Europa durchzusetzen. Auch das ist hinlänglich bekannt. Die Nord Stream 2 als hundertprozentige Tochter des Gazprom-Konzerns ist natürlich genauso in dessen vom Kreml diktierten, politischen Gesamtstrategie eingebunden wie eine nur formal unabhängige, zukünftige deutsche Tochter. Deswegen wird sie tatsächlich alles andere als ein "Unabhängiger Transportnetzbetreiber" sein. Dies festzustellen und deswegen eine Zertifizierung abzulehnen, wird die Bundesnetzagentur allerdings politisch kaum wagen.

Ziel: Destabilisierung der Ukraine

Am Tag vor dem vorläufigen Stopp der Zertifizierung wurde die Naftogaz als bisheriger Hauptnetzbetreiber des Gasexports von Gazprom in die EU durch die Ukraine von der Bundesnetzagentur zum Verfahren hinzugezogen. Damit kann das ukrainische Unternehmen im weiteren Verfahren deutlich machen, wie die staatliche Gazprom mit ihrer Tochter Nord Stream 2 den Wettbewerb auf dem EU-Binnenmarkt für Erdgas behindert und den Konkurrenten aus der Ukraine aus rein politischen Erwägungen in den Ruin treibt. Diese Destabilisierung der Ukraine war ja der eigentliche strategische Grund für den Bau der Pipelines Nord Stream 1 und 2.

Für die Betriebsgenehmigung ist neben der Zertifizierung ebenso ein Votum des Bundeswirtschaftsministeriums erforderlich. Dieses muss urteilen, ob das Projekt die deutsche und EU-Versorgungssicherheit gefährdet. Das Wirtschaftsministerium hat noch flugs vor dem Regierungswechsel ein positives Urteil abgegeben. Doch dieses Votum ist hanebüchen. Es ignoriert ganz offensichtlich die dargestellten Folgen des Betriebs von Nord Stream 2 für die Versorgungssicherheit der Ukraine. Diese zu berücksichtigen sind die EU und die Bundesrepublik aber rechtlich verpflichtet. Das ergibt sich aus dem EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine und dem in der EU-Energieunion festgeschriebenen Prinzip der Energiesolidarität.

"Versorgungssicherheit" meint auch Klimaschutz

Angesichts der neuen Verfahrensentwicklung erhält ein parteipolitisch neu besetztes Bundeswirtschaftsministerium die Chance, dieses schnelle Urteil noch einmal zu überprüfen. Im Zentrum könnte zum Beispiel die Frage stehen, inwieweit der Gasimport durch die neue Ostsee-Pipeline überhaupt noch mit den ambitionierten Zielen des heutigen Klimaschutzes vereinbar ist. Denn der Begriff "Versorgungssicherheit" schließt auch die Nachhaltigkeit dieser Versorgung mit Blick auf den Umweltschutz mit ein.

Die jetzt die eingetretene, mehrmonatige Verfahrensunterbrechung gibt einer neuen Bundesregierung die Zeit, Sinn und Zweck dieses 2005 begonnenen und politisch sowie energiewirtschaftlich längst überholten Projekts an die Ziele des Klimaschutzes von heute anzupassen. Das wäre dann tatsächlich ein echter Neuanfang.

Dr. jur. Jörg Himmelreich ist Professeur Affilié an der École Supérieure de Commerce à Paris (ESCP), Campus Berlin.

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