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Politik

Triumph der Unberechenbarkeit

Kommentatorenbild - Schriftsteller Viktor Jerofejew
Viktor Jerofejew
26. Dezember 2021

30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion liegt Russland noch immer auf den Knien. Aber Wladimir Putin hat es geschafft, dass der Westen vor dem Land zittert, meint Viktor Jerofejew.

Dem Ende der Sowjetunion wurde zunächst nirgendwo nachgetrauertBild: AFP/dpa/picture-alliance

Das neue Russland wurde kurz vor Silvester geboren - am 26. Dezember wird es 30 Jahre alt. Die Entbindung ähnelte formal einer Loslösung von der Sowjetunion. In Wirklichkeit lösten sich aber die ehemaligen Sowjetrepubliken von Moskau und dem russischen Kern des Großreiches. Sie rannten in unterschiedliche Himmelsrichtungen davon, und auf der Landkarte, sich groß und breit von Ozean zu Ozean erstreckend, verblieb Russland als Nachfolgerin der UdSSR.

Indessen weiß heutzutage ein Fünftel der jungen Leute in Russland nicht einmal mehr, was die UdSSR war oder ist sich zumindest unsicher über die Bedeutung dieser Buchstaben. Wenn man bedenkt, dass die UdSSR eine totalitäre Supermacht war mit wahnsinnigen imperialen Ambitionen, der globalen kommunistischen Utopie, einer armen Bevölkerung, die sich gleichsam gegen Gott versündigt und weder Freiheit noch Wurst hatte, dann ist es womöglich ja gar nicht so schlecht, wenn man diese Vergangenheit mit Einparteiensystem und Gulag einfach ein für allemal vergisst. Im Frankreich der 1950er-Jahre zeichnete sich die Jugend ja auch nicht gerade durch ein gutes Gedächtnis aus: "Hitler? Connais pas." ("Hitler? Nie gehört.")

Russische Versuchung nach dem Gedächtnisverlust

Doch es gibt, wie man in der Sowjetunion zu sagen pflegte, zwei riesige Unterschiede.

Frankreich kehrte zurück zur Demokratie und beeilte sich, das Elend der Besatzung aus dem Alltagsgedächtnis zu streichen. In Russland droht mit dem historischen Gedächtnisverlust die Versuchung, zu einer ruhmreichen Geschichte zurückzukehren, die es so nie gegeben hat. Man braucht sie nur schön auszumalen, dann leben wir wieder in einer imaginären starken Supermacht, aufs Neue fürchten und respektieren uns alle, und wir dagegen fürchten niemanden.

Der russische Schriftsteller Viktor JerofejewBild: picture alliance/W. Minich

Anfang der 1990er-Jahre wollte sich Russland erstmals von seiner sowjetischen Vergangenheit losreißen, verhedderte sich jedoch schlimm in seinem Gewand und stürzte krachend zu Boden. Gehirnerschütterung! Von der einen Seite bemühten sich demokratische Ärzte um Heilung, indem sie ihm alle möglichen europäischen Kuren wie Marktwirtschaft und ein Mehrparteiensystem verordneten. Von der anderen Seite tauchten sehr bald schon nationalkommunistische Ärzte mit UdSSR-Nostalgie auf.

Präsident Jelzin wusste selbst nicht, was mit der vom Himmel gefallenen Freiheit anzufangen sei und schwankte zwischen beiden Gruppierungen. Das kostete ihn seine Gesundheit, das Land bekam einen zweiten Tschetschenienkrieg, den Beschuss des prosowjetischen Parlaments 1993 und vieles andere mehr.

Fantastische Jahre der Befreiung russischer Kultur

Als Zeuge jener Zeit kann ich sagen, dass es zu all dem auch fantastische Jahre der Befreiung unserer Kultur waren, in denen man endlich alles lesen durfte. Von Nabokovs Werken bis zu Solschenizyns "Archipel Gulag". Man konnte jede Menge bislang verbotener Filme sehen. Das Land öffnete sich - es erfüllte sich der Traum unserer Landsleute, durch die Welt zu reisen. Zumindest für die, die das Geld dafür hatten. Die leeren Geschäfte füllten sich mit allen möglichen Waren.

Oh, es war eine Zeit der Hoffnungen! Aber es war auch ein gefundenes Fressen für Banditen. Mit deren krimineller Parallelwelt im Land wurde der geschwächte Staat nicht fertig. Die Pfefferspraydose wurde zum Symbol der Selbstverteidigung einer schutzlosen Bevölkerung vor diversen Banden von Hooligans.

Die Geburt von Präsident Putin

Und da wandte sich die Regierung an eine Organisation, die eigentlich nie weg gewesen war: Ungeachtet aller staatlichen Transformationen hatte der KGB hinter der neuen Maske des FSB seine Positionen bewahrt und bot sich nun den demokratischen Machthabern an.

Die Folge war die Geburt von Präsident Putin. Der kranke, hilflose und verängstigte Jelzin erwählte ihn als zuverlässigen Nachfolger, der ihn und seine gesamte Familie vor Bettelstab und Gefängnis retten würde. Das muss man Putin lassen: Geschickt und mit harter Hand krempelte er das Land um und schlug ihm einen neuen Weg vor. Genauer gesagt: Russland sollte sich von den Knien erheben. Ich bin ganz und gar nicht der Meinung, dass Russland bei all den Wirrnissen der 1990er-Jahre vor dem Westen auf den Knien lag oder gar auf allen Vieren kroch. Das Land hätte erneut das Fenster zu Europa aufstoßen können und müssen, um ein vollwertiger demokratischer Staat zu werden. Aber es reichten weder Kraft noch Verstand noch der Wille des Volkes.

Wladimir Putin - ein Präsident, dessen Stil zunehmend an den von Sowjetherrschern erinnertBild: DW

Dieses behauptete Sich-Erheben Russlands von den Knien war nichts als eine propagandistische Losung. Zunächst wollte es angeblich den Lebensstandard Portugals einholen und überholen - eine Art Nachhall des sozialistischen Wettbewerbs mit kapitalistischem Ziel. Aber das klappte nicht - und das war's dann auch schon. Dafür begann das Land auf militärische Parolen anzusprechen, die Aufrufe, das vom Westen betrogene Vaterland zu verteidigen, dem man Sowjetrepubliken weggenommen und von denen sich einige die NATO in die Tasche gesteckt hatte.

Das autokratische Modell einer Festung

Das Fehlen jeder politischen Orientierung der Massen, die mustergültige, exakt auf die Mentalität der Bevölkerung abgestimmte Arbeit der landesweiten Fernsehsender zur Verteidigung des Vaterlandes taten ein Übriges. Russland - das sich von den Knien erhoben oder auch nicht erhoben hatte - bewegte sich in Richtung des ihm eigenen autokratischen Modells: einer Festung. Innerhalb einer solchen Festung kann man alles Unnötige verbergen und das Nötige an den Mauern zur Schau stellen, dem Feind zur Ansicht.

Der Westen verstand natürlich nicht sofort, wohin sich Russland bewegte. Putin hatte ihn ausgetrickst. Überhaupt ist dieser Präsident ein Glückspilz. Alles gestaltete sich nach seinem Willen. Selbst die Weltmarktpreise für Öl und Gas spielten ihm zunächst in die Hände. Und welche Leistungen hat Russland vorzuweisen, seit es seinen neuen Weg einer Festung eingeschlagen hat? Oh, nicht wenige! Es ist unberechenbar geworden. Seine westlichen Partner sind regelrecht aus dem Tritt geraten.

Was soll man noch von dem Land erwarten? Was wohl! 2014 geschah das wichtigste Ereignis der Putin-Ära. Russland nahm die Krim ein. Kampflos. Zur Freude vieler Krimbewohner. Man pfiff auf internationale Vereinbarungen. Sieg! Das Volk war total aus dem Häuschen. Man vollführte Freudentänze auf den Kühlerhauben der Autos. Der Westen zuckte - doch es war zu spät. Na ja, so richtig zuckte er eben doch nicht. Der nächste Schritt: Kiew in einen Feind verwandeln und es, wie man sich in Moskau neulich ausdrückte, am Haken des auch von der Ukraine unterzeichneten Minsker Friedensabkommens zappeln lassen, um wenigstens das Blutvergießen im Donbass irgendwie einzudämmen. Das ist ein weiterer Sieg.

Unberechenbarkeit - eine ernstzunehmende Waffe

Und sonst? Wenn man sich mal umschaut, kann man unser schönes Heimatland sehen, wie es sich nicht so recht von den Knien erheben will. Fährt man weiter raus, Armut allerorten, zum Erbarmen, alles ist irgendwie abgeblättert, die Wände, die Häuser, windschiefe Zäune, Rost - nein, so erhebt man sich nicht von den Knien. Natürlich kann man alles auf Corona schieben. Guter Gedanke, denn Corona verspricht ja nicht morgen vorbei zu sein. Natürlich hat sich unser Staat arg blamiert; aus irgendeinem Grund will sich das Volk nicht begeistert impfen lassen, die Regierung hat den Schlüssel zu den Herzen seiner Kernwählerschaft nicht gefunden. Ehrlich gesagt, sie hat sich auch keine besondere Mühe gegeben.

Kommen wir zurück auf die Unberechenbarkeit. Das ist eine ernstzunehmende Waffe. Dem Westen zittern die Knie. Er hat verlernt, in einem Krieg zu kämpfen. Wir Russen nicht. Und das ist das größte Ass aus 30 Jahren Russland. Das Land will zwar nicht Krieg führen, aber wenn es sein muss, dann eben doch. Und wie! Aus allen Rohren.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, ist ein russischer Schriftsteller. 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband der Sowjetunion ausgeschlossen. International bekannt wurde er 1990 mit dem Roman "Die Moskauer Schönheit", der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt in Moskau und äußert sich regelmäßig kritisch zur Politik Wladimir Putins.

 

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