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Politik

Der Westen ist noch nicht verloren

NUR APP-Nutzung | Thomas Kleine-Brockhoff, The German Marshall Fund of the United States
Thomas Kleine-Brockhoff
23. September 2019

Wird sie reformiert, hat die westliche Ordnung auch weiterhin eine Zukunft gegen Populisten und Nationalisten. Leitbild muss die Idee eines "robusten Liberalismus" sein, meint Thomas Kleine-Brockhoff.

Glaubt man dem vielstimmigen Chor der Alarmisten, dann ist Amerika verloren, der Westen am Ende und die liberale internationale Ordnung moribund. Mit der Wiederwahl Donald Trumps wird der Triumphzug der Populisten unaufhaltbar sein. Während die freiheitliche Ordnung dahinsiecht, zieht ein Zeitalter des Neo-Nationalismus herauf, mit China und Russland als revisionistischen Führungsmächten. Soweit die Fatalisten.

Richtig ist immerhin, dass sich die liberalen Demokratien in einer tiefgreifenden Krise befinden. Sie abzuschreiben - und damit die freiheitlichen Ideen der Aufklärung -, wäre aber ein spektakulärer Irrtum. Wir wissen doch: Populisten können sich beklagen, aber nicht regieren. Ethnischer Nationalismus, siehe 20. Jahrhundert, ist eine Krankheit, kein Heiltrunk. Donald Trump wird vielleicht an der Wahlurne scheitern, seine Politik spätestens an der Realität - und früher als gedacht auch die Politik seiner europäischen Adepten. Auch dass die westlichen Staaten unter dem Joch revisionistischer Großmächte existieren müssen, ist keineswegs ausgemacht: Im Kalten Krieg haben sie ganz gut gelernt, mit Systemkonkurrenz zu leben.

Selbstkritik als Wesensmerkmal demokratischer Politik

In Wahrheit sind die westlichen Demokratien viel widerstands- und anpassungsfähiger als die Fatalisten glauben. Zum Erbe der Aufklärung gehört die Selbstkritik als Wesensmerkmal demokratischer Politik. Das ist keiner anderen Regierungsform eigen. Deshalb kann die liberale Demokratie Fehler erkennen und korrigieren, ohne sich selber zu verleugnen oder abzuschaffen.

Damit das Projekt einer liberalen internationalen Ordnung aber Zukunft hat, müssen sich die westlichen Staaten von einem Irrweg verabschieden: von der selbstgewissen Idee, die ganze Welt werde die westliche Ordnung annehmen. Seit dem Revolutionsjahr 1989 war der Glaube verbreitet, mit dem Ende des Kalten Krieges sei das goldene Zeitalter der Demokratie angebrochen. Das Mantra lautete: Handel schafft Wandel, auf Öffnung folgt Freiheit. Osteuropa und Russland, China und der Nahe Osten sollten Stationen auf dem Siegeszug des eigenen Gesellschaftsmodells sein.

So entstand liberale Überdehnung: weil alle Politik auf ein gemeinsames Ziel zusteuerte, den demokratischen Frieden unter amerikanischer Protektion, schien es kaum mehr notwendig, Willen und Mittel für das Erreichen dieses Zieles einzusetzen. Außer Terroristen gab es keine Feinde mehr, nur noch Partner, die auf dem Weg waren, zu Freunden zu werden. In dieser Welt konnte man sogar Regelbrecher und Trittbrettfahrer unter den Staaten tolerieren, zum Beispiel im Welthandelssystem. Sie brauchten bloß noch etwas mehr Zeit, um so zu werden "wie wir". Denn der Lauf der Geschichte kannte ja nur ein Ziel, ein paar Abzweigungen und Umwege würden da keinen Unterschied machen. Dass Andere eigene Ziele verfolgten oder nur so taten, als seien sie Partner und Freunde - das kam in der selbstgerechten und siegesgewissen Welt des demokratischen Determinismus nicht vor.

Vor den Trümmern unserer Erwartungen

30 Jahre später "stehen wir vor den Trümmern unserer Erwartungen", wie es der Mainzer Historiker Andreas Rödder formuliert. Also was nun?

Zunächst gilt es, die (System)-Kritik der Populisten ernst zu nehmen. Ihre Wähler sind ja nicht bloß abgehängt und zukunftsverängstigt. In Wahrheit haben die neuen Nationalisten dabei geholfen, manches Missverständnis und manchen Selbstbetrug offenzulegen. Zumindest äußern sie verstehbare Zweifel daran, wie Freiheit, Freizügigkeit und Freihandel in der internationalen Zusammenarbeit interpretiert werden. Das anzuerkennen, bedeutet keineswegs, zugleich deren Mein-Land-zuerst-Attitüde gutzuheißen. Und schon gar nicht bedeutet es, die politischen Rezepturen der Populisten zu goutieren.

Wer also das nationalistische Fieber senken möchte, muss dringend Korrekturen zur Erneuerung des freiheitlichen Projekts vornehmen. Die Welt braucht dazu den Westen, und zwar einen erneuerten Westen.

Robuster Liberalismus denkt den Westen neu

Die Erneuerung sollte der Grundidee eines robusten Liberalismus‘ folgen. Gemeint ist damit eine zeitgemäße Interpretation des demokratischen Liberalismus‘: prinzipien- und regeltreuer, bescheidener und sich seiner Grenzen bewusster, zugleich aber abwehrbereiter. Robuster Liberalismus denkt den Westen neu, indem er die Überdehnung beendet, den Ideenkern aber umso entschiedener bewahrt, vertritt und verteidigt.

Es gilt, entschieden für die freiheitlichen Prinzipien einzutreten, besonders die Menschenrechte, sich aber zugleich vom offensiven Hoppla-hier-komm-ich-Liberalismus zu distanzieren, der (in seiner linken Variante) immer neue Politikfelder global vergemeinschaften oder (in seiner rechten Variante) das vermeintlich Gute notfalls mit Hilfe von Bajonetten über die Welt bringen will.

Nicht auf der Jagd nach dem ultimativ Guten

Robuster Liberalismus will nicht einem ultimativ Guten nachjagen, einem summum bonum. Er ist vielmehr moderat und skeptisch. Er bescheidet sich darin, ein summum malum verhindern, ein ultimativ Böses, etwa das Menschheitsverbrechen des Völkermordes. So kann es gelingen, die freiheitlichen Werte nicht zu verraten und doch in einer Welt ohne liberalen (amerikanischen) Hegemon in Frieden auch mit unfreundlichen, ja gefährlichen Regimen zusammenzuleben. Die liberale internationale Ordnung wird so bewahrt, sie akzeptiert allerdings die machtpolitische Realität konkurrierender Ordnungssysteme. 

Das ist nicht wenig in einer Zeit des autoritären Revivals. Es erfordert, eigene Regeln tatsächlich zu beachten und sie durchzusetzen, wenn sie gebrochen werden. Es gebietet, jenen entgegen zu treten, die westlichen Ländern subkutan die Usancen des Autoritarismus andienen wollen. Die freie Welt wird sich eine Art wehrhafte Toleranz zulegen müssen. Der Liberalismus, der so entsteht, ist vorsichtig und defensiv, nicht ausgreifend und offensiv; exemplarisch, nicht missionarisch. Diese wertetreue Zurückhaltung passt in die Zeit. So ein robuster Liberalismus kann deshalb in eine erneuerte Ordnung der Freiheit führen.

Thomas Kleine-Brockhoff ist Vizepräsident des German Marshall Funds of the U.S. Er leitete zuvor den Planungs- und Redenstab von Bundespräsident Joachim Gauck. Heute (Montag 23.9.) erscheint sein Buch "Die Welt braucht den Westen - Neustart für eine liberale Ordnung", an das sich dieser Text anlehnt.