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Politik

Sind Juden in Europa noch willkommen?

DW Interview - Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt
Pinchas Goldschmidt
27. März 2021

Juden in Europa sind in Sorge. Zum Pessachfest warnt Pinchas Goldschmidt, Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz, vor wachsenden Einschränkungen des religiösen Lebens und einem Exodus der Juden aus Europa.

Bild: DW

An diesem Wochenende beginnt das Pessachfest, eines der wichtigsten Feste des Judentums, das an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten erinnert. Doch nach Feiern ist nicht allen zumute.  

Der Außenminister des Vatikans, Erzbischof Paul Gallagher, beklagte erst kürzlich in einem Video-Beitrag zur 46. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf eine Aushöhlung des Grundrechts auf Religionsfreiheit in der Pandemie. Bestimmte behördliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Gesundheit beeinträchtigten die freie Ausübung der Menschenrechte.

Damit sprach er einen schmerzlichen Punkt an, der derzeit nahezu alle Glaubens- und Religionsgemeinschaften weltweit betrifft. Wachsende Restriktionen gegen das Grundrecht der Religionsfreiheit sind leider kein neues Phänomen.

Diesen Negativtrend gab es bereits vor dem Ausbruch des Corona-Virus. Unter dem Deckmantel der Pandemie wird er lediglich weiter verstärkt. Die jüdische Gemeinde in Europa erfüllt das mit großer Sorge. Denn damit steht ihre Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel.

Europa sollte aufhorchen

Während Europa seit über einer Dekade im permanenten Krisenmodus um sich selbst kreist und dabei das oft beschworene Motto "In Vielfalt geeint" aus dem Blick verliert, wird jenseits des Atlantiks wieder genauer auf den Kontinent geschaut. Im vorigen Monat gab die für Demokratie und Menschenrechte zuständige stellvertretende Staatssekretärin im US-Außenministerium, Kara McDonald, auf einem Expertentreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zur Bekämpfung von Antisemitismus einen Ausblick auf die geplante Arbeit der Administration von Joe Biden.

Die gute Nachricht: Erwartungsgemäß wird sie ihre Arbeit gegen Antisemitismus verstärken, so wie diese von der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken weltweit definiert worden ist. Bemerkenswert war jedoch ihre Aussage über das jüdische Leben in der Gegenwart - nicht in der Vergangenheit. Und hier sollte Europa aufhorchen.

Jüdischer Geistlicher mit Kippa in Köln: Ist die Vielfalt religiösen Lebens in Europa bedroht? Bild: Geisler-Fotopress/picture-alliance

Die US-Staatssekretärin betonte, dass die Lebensfähigkeit der jüdischen Gemeinden heute in einer Reihe von Ländern auf eine andere Weise - durch erlassene oder erwogene Verbote religiöser Praktiken wie des rituellen Schächtens oder der männlichen Beschneidung- bedroht sei.

Religion frei ausüben 

Die Botschaft war vor allem an die Adresse Europas gerichtet. Sich politisch gegen das Vergessen der Vergangenheit einzusetzen, ist das eine. Das andere ist – und das machte McDonald deutlich -, dass die Einschränkung, seinen Glauben und seine Religion frei praktizieren zu können, jüdisches Leben in der Gegenwart viel stärker bedroht.

In der Gegenwart zu leben bedeutet, die Freiheit von Religion und Religionsausübung zuzulassen. Im Dezember 2020 entschied der Europäische Gerichtshof, dass das in den belgischen Provinzen Flandern und der Wallonie erlassene Verbot des Schächtens, der religiösen und humanen Methode des Schlachtens von Tieren für den Verzehr, nach europäischem Recht gerechtfertigt sei.

Das Urteil stellt nicht nur den Wert des tierischen Lebens über das menschliche, sondern gefährdet auch die Möglichkeiten der jüdischen Gemeinde in Belgien, ihr religiöses Alltagsleben frei auszuüben. Die Einschränkung des Zugangs zu koscherem Fleisch und seiner Produktion sowie das in Ländern wie Dänemark, Finnland und Island diskutierte Beschneidungsverbot männlicher Kinder machen es unmöglich, jüdisches Leben dort weiter zu leben.

Verbote statt Vielfalt

De facto kommen sie einem Verbot jüdischen Lebens gleich. Ist es das, was man in einem Europa der Vielfalt zulassen will? Europa verspricht Freiheit für alle - doch das Gegenteil des stets Beteuerten geschieht.

Europäische Politiker beteuern immer wieder, dass jüdisches Leben geschätzt und respektiert werden solle. Aber all diese Erklärungen erscheinen wertlos und heuchlerisch, vor allem wenn sie ausgerechnet bei Gedenkzeremonien wie dem Ende Januar begangenen Internationalen Holocaust-Gedenktag geäußert werden. Wenn es Europas Politiker ernst meinen, müssen sie diese Gesetzgebungen gegen Religion stoppen. Zumal Europa der einzige Kontinent ist, auf dem solche gefährlichen Initiativen verfolgt werden.

Die Rede von Kara McDonald ist deshalb so wichtig, weil sie hervorhebt, dass die Überwindung des Antisemitismus nicht nur bedeutet, die Vergangenheit anzuerkennen, sondern auch, Möglichkeiten jüdischen Lebens für die Zukunft zu schaffen. Und hier ist das amerikanische Modell zur Wahrung der Religionsfreiheit weltweit führend. Europa muss sich ein Beispiel an den USA und ihren Prinzipien nehmen, indem es seiner jüdischen Bevölkerung die freie Ausübung ihrer Religion ermöglicht.

Wir wollen von Europas Politikern beherzte und positive Maßnahmen sehen, die das religiöse Leben respektieren und stärken und einen drohenden Exodus stoppen. Ein solcher Exodus ist keine Übertreibung, sondern bereits Realität. Viele Juden haben im zurückliegenden Jahrzehnt ihre europäischen Heimatländer verlassen, da sie sich dort nicht mehr willkommen fühlten. Das liegt an der Zunahme antisemitischer Übergriffe, aber eben auch an der Einschränkung ihrer Religionsfreiheit.

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt ist seit 2011 Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER)

 

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