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Politik

60 Tote und die Frage nach der Verantwortung

17. Mai 2018

Die Proteste am Gazastreifen endeten in einem Blutbad. Ließ die Hamas ihre Bürger bewusst in den Tod rennen? Und hätte Israel anders regieren können? Im Streit um diese Fragen geht es für beiden Seiten um sehr viel.

Palästina Israel Gaza Protetste Verletzte
Bild: Getty Images/AFP/S. Khatib

Im Laufe des Montags kamen mindestens 60 palästinensische Demonstranten bei Protesten unmittelbar an der israelischen Grenze ums Leben - über 1700 wurden verletzt. Erst danach, als die meisten Demonstranten sich zurückgezogen hatten, nahm die den Gazastreifen regierende Hamas Kontakt zu Israel auf. Man wolle das Maß der Gewalt senken, ließen die Islamisten die israelischen Sicherheitsbehörden wissen. Die reagierten - und öffneten am Dienstag den Grenzübergang Kerem Shalom, um dringend benötigte Waren in den abgeriegelten Gazastreifen zu bringen. Gleichzeitig, offenbar in Abstimmung mit den Israelis, öffnete auch Ägypten einen Grenzabschnitt, um Verwundete zur Behandlung in ägyptischen Krankenhäusern aufzunehmen.

Am Montagabend war der Gesprächskanal etabliert. Aber er war es offenbar vorher schon. Auf welche Weise und mit welchem Ergebnis er bereits kurz vor den Protesten genutzt wurde, ist derzeit allerdings umstritten. Eines steht offenbar fest: Am Sonntag reiste der Hamas-Führer Ismail Haniyeh zu Gesprächen nach Kairo. Es ging um die bevorstehenden Proteste.

Um den Inhalt der Gespräche existieren konkurrierende Deutungen. Der israelische Geheimdienstminister Israel Katz erklärte nach den Zusammenstößen im israelischen Radio, ägyptische Sicherheitsleute hätten Haniyeh gewarnt: Man habe Beweise, dass die Hamas die Proteste unterstütze und Menschen an den Grenzzaun schicken wolle -  als "lebende Munition, Frauen und Kinder anstelle von Bomben und Raketen." Würde die Hamas tatsächlich nach diesem Plan vorgehen, würde Israel robuste Maßnahmen ergreifen. Und Ägypten werde der Hamas nicht beistehen, gab Katz die Gespräche in Kairo wieder.

Die Hamas: Herrin der Proteste?

Warnten die Ägypter Haniyeh tatsächlich? Die Hamas leugnet es. Fest steht aber auch: Die Proteste fanden am Montagabend ein relativ abruptes Ende.

Der Streit um das Treffen in Kairo und auch die Kommunikation mit den israelischen Sicherheitsbehörden werfen nicht nur die Frage auf, inwieweit die Hamas Herrin der Proteste war. Die eigentliche Frage ist eine andere: Nahm sie im Vorfeld der Proteste den möglichen Tod einer Reihe von Palästinensern in Kauf, um Israel moralisch und politisch zu diskreditieren und den jüdischen Staat diplomatisch zu isolieren?

Israel stand vor einem Sicherheitsproblem: 50 der am Montag getöteten Personen entstammten den Reihen der Hamas, wie diese am Mittwoch erklärte. Was hätten diese getan, wenn es ihnen gelungen wäre, den Grenzzaun zu durchbrechen? Der Gedanke, sie hätten in Israel Anschläge verüben können, ist zumindest nicht von der Hand zu weisen.

Sprache der Gewalt: Proteste im GazastreifenBild: Reuters/I. Abu Mustafa

Die liberale Zeitung "Haaretz", seit vielen Jahren eine beständige Stimme für den Dialog mit den Palästinensern, unterstellt der Hamas, sie habe die Geschehnisse jederzeit unter Kontrolle gehabt. Die scharfe Wendung, die sie am Ende der Proteste nahm, indem sie versprach, die Gewalt künftig zu zügeln, deute genau darauf hin, schreibt "Haaretz". Als Grund für den Strategiewechsel nimmt die Zeitung an, die Hamas hätte zum einen angesichts der am Montag völlig überlasteten Krankenhäuser ein Einsehen gehabt. Zum anderen hätten sie sich von der israelischen Drohung, führende Hamas-Mitglieder ins Visier zu nehmen, durchaus beeindruckt gezeigt.

Die bisherige Annahme des israelischen Geheimdienstes, die Hamas habe die Kontrolle über einen Teil des palästinensischen Widerstands verloren, lasse sich darum nicht mehr halten, schreibt die Zeitung. "Es ist deutlich geworden, dass Gaza ruhig ist, wenn die Hamas es will. Will sie es nicht, steigt die Gewalt", so Haaretz.

Neue Strategie der Hamas?

Die Annahme passt zu der Erklärung, die Hamas-Sprecher Fawzi Barhoum am Mittwoch abgab. "Die Demonstrationen werden fortgesetzt, bis unser Volk seine Ziele erreicht", erklärte er. Mehrere palästinensische Gruppen, unter ihnen die Hamas und der Islamische Dschihad, riefen am Mittwoch zu weiteren Protesten am kommenden Freitag auf.

Hamas und andere Gruppen setzten auf eine neue Strategie, vermutet die Washington Post: "Sie versammeln Tausende nominell als Zivilisten geltender Personen zum Marsch, um zu versuchen, den Grenzzaun zu durchbrechen. Dabei kalkulieren sie ein, dass viele Menschen getötet werden. Das Ergebnis wäre eine moralische und politische Niederlage für Israel - und womöglich eine Erleichterung für das Regime (der Hamas, Anm. d. Red.), das im Wortsinn von allen Seiten belagert wird."

In der Tat hat die Hamas, seitdem sie 2006 im Gazastreifen durch Wahlen an die Macht kam, kaum etwas für die Bürger erreicht. Die Wirtschaft im Gazastreifen ist nach Einschätzung der Weltbank von Spenden abhängig und droht zusammenzubrechen. Zudem hat die Hamas in ihren zwölf Regierungsjahren keinerlei Anstalten gemacht, vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber Israel zu entfalten, die Schritt für Schritt zu einer Erleichterung der Blockade und damit einer besseren Gesamtlage der Bevölkerung hätten führen können.

Zudem hat der Krieg in Syrien die globale Aufmerksamkeit vom Gazastreifen weggelenkt. Auch die Solidaritätsbekundungen aus der arabischen und islamischen Welt haben spürbar nachgelassen. Um die Hamas ist es international einsam geworden. Ihre einzige Stütze ist das Mullah-Regime im Iran. 

Zustimmende Reaktionen in den palästinensischen Zeitungen

Dem hat die Hamas am Montag - aus ihrer Sicht - erfolgreich entgegengearbeitet. Sie hat es vermocht, die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren. Insofern, schreiben die großen palästinensischen Zeitungen übereinstimmend, war die Aktion vom Montag ein Erfolg.

Mediale Nachwirkungen: Solidaritätskampagne mit den Palästinensern in Berlin am 15. MaiBild: picture-alliance/AA/C. Karadag

"Die gesamte Welt steht hinter uns und unserem gerechten Anliegen, unsere Rechte gegen die von Israel begangenen Massaker zu verteidigen, und ebenso auch gegen die Voreingenommenheit der USA uns gegenüber", schreibt die Zeitung "Al Quds".

Die direkte Konfrontation gehe weiter, schreibt auch die Zeitung "Al-Hayat". Wir werden fortfahren, diese Politik zu bekämpfen, wie immer sie aussehen mag." Die Zeitung "Al-Ayyam" sieht die Palästinenser durch die Geschehnisse vom Montag in die Pflicht genommen: "Wenn wir uns nicht durch das Blut der Märtyrer, die Schmerzen der Verwundeten und die Qualen des belagerten Volkes vereinen, wird nichts uns vereinen, und unsere Führer werden niemals das Niveau unseres Volkes erreichen."

Die Frage, ob die Toten nicht auch hätten vermieden werden können, stellt sich den Kommentatoren nicht. Die Zeitung "Al-Quds" misst ihnen stattdessen eine aufklärerische Funktion zu. Angesichts der hohen Zahl von Toten und Verwundeten, heißt es in einem Kommentar, sei klar, "dass die Besatzungsmacht entschieden hat, die Märsche mit immer härteren Mitteln zu verhindern und eine möglichst hohe Zahl von Toten und Verwundeten zu erreichen, um den Massen derer, die in Richtung der Grenze marschieren, einzuschüchtern und zu terrorisieren."

Warum Israel so entschieden auf Gewalt gesetzt hat, und ob es keine andere Möglichkeit gab, der Proteste in unmittelbarer Grenznähe Herr zu werden - darüber, schreibt die "Washington Post", sollte die israelische Staatsführung nicht leichtfertig hinweggehen. Die Sympathie für Israel, stellt sie fest, nehme in den westlichen Staaten ab.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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