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Politik

"Elf Tage haben sich wie elf Jahre angefühlt"

25. Mai 2021

248 Tote, darunter 66 Kinder. Die hohe Zahl der Todesopfer im Gazastreifen im jüngsten Konflikt zwischen Hamas und Israel wirft viele Fragen auf. Die Bevölkerung steht unter Schock. Aus Gaza Tania Krämer.

Gaza nach den Bombenangriffen Israels
Nach den Bombenangriffen Israels gleicht Gaza-Stadt einem TrümmerfeldBild: Tania Kraemer/DW

Wo einst Apartmenthäuser und Läden in dieser zentralen Straße in Gaza-Stadt standen, sind nur noch Trümmer übrig geblieben. Betonbrocken, Metallstäbe, zerrissene Kleidung und Bücherseiten ragen aus ihnen als stille Zeugnisse derer hervor, die dort bis vor kurzem gelebt haben.

Adli al Kolak sitzt im Trauerzelt. Es steht genau gegenüber von der Stelle, wo einst das Haus stand, in dem ein Großteil seiner Familie gewohnt hat. 21 Verwandte hat er bei dem israelischen Luftangriff verloren.

Unter Schock

"Ich kann meine Gefühle nicht richtig beschreiben, es ist ein Gefühl von Depression, von Traurigkeit, von Angst. Ich kann überhaupt nicht verstehen, was passiert ist," sagt al Kolak und schaut auf das Trümmerfeld.

"Ich bin noch immer wie unter Schock. Von einer Minute auf die andere war das Haus zerstört, alles war eingestürzt, und alle lagen unter den Trümmern."

Noch immer hört er die Hilfeschreie seiner Verwandten, darunter auch Kinder, eingequetscht unter dem eingestürzten Beton. "Was hat ein sechs Monate altes Baby getan? Hat es Raketen auf Israel geschossen?", fragt er.

Adli al Kolak, Bewohner der Al Wehda Straße in Gaza-Stadt, hat 21 Familienangehörige verloren Bild: Tania Kraemer/DW

Auch ein anderes Mehrfamilienhaus in der Al Wehda Straße, das Zuhause der Abu Al-Ouf Familie, wurde in der Nacht bei einem Luftangriff komplett zerstört. Der Bewohner Anas hat dabei seine Verlobte Shaima Abu Al-Ouf verloren. 

"Wir hatten an dem Tag mehrmals miteinander gesprochen, auch am Abend, als es plötzlich diesen extrem lauten Einschlag gab." Dann sei die Leitung abgebrochen und er habe ihr eine Nachricht geschickt. Aber die habe sie nicht mehr bekommen.

"Messer im Herz"

Schnell war klar, dass mehrere Häuser in der Al Wehda Straße zerstört worden waren. Mehr als zehn Stunden lang suchten die Retter nach Überlebenden unter den Trümmern - bis Anas schließlich erfuhr, dass seine Verlobte nicht mehr lebte und er ihren Leichnam in der Gerichtsmedizin wiederfand.

"Sie hatte ein Lächeln im Gesicht," sagt Anas. "Es fühlt sich an, als ob sich ein Messer immer tiefer in mein Herz eingräbt. Aber - sie ist jetzt an einem besseren Ort."

Neben Shaima starben mehrere Familienmitglieder, auch ihr Onkel, Ayman Abu Al-Ouf, Arzt für Innere Medizin am Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Der Arzt war auch zuständig für die Covid-19 Taskforce im Krankenhaus.

"Wir haben noch immer die Gewohnheit, ihn einfach schnell anzurufen, wenn es Fragen gibt," sagt Arzt-Kollege Khaled Khadoura, der sich für eine Schicht auf der Corona-Station des Krankenhauses fertig macht. Alle hier, so sagt er, seien noch immer geschockt über den Tod des Kollegen.

Die israelische Armee beschuldigt Hamas, militärische Infrastruktur in Wohnvierteln einzurichten und Einwohner als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Die Bewohner in der Al Wehda Strasse sagen, sie seien nicht vom israelischen Militär vorgewarnt worden, um die Häuser zu evakuieren - wie es bei mehreren Hochhäusern der Fall gewesen war.

Beschuss von Wohngebieten

Der Tod der vielen Zivilisten hat Fragen aufgeworfen, darunter auch, warum das Wohngebiet als Ziel galt. Der elftägige Konflikt in Gaza hat 248 Palästinenser getötet, darunter 66 Kinder und dutzende militante Kämpfer. Über 1900 Menschen wurden verletzt, so die Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums.

In Israel wurden zwölf Menschen getötet, darunter ein Kind und ein Soldat. Hamas hat mehr als 4.000 Raketen auf Ortschaften und Städte in Israel abgefeuert. 

Während einige Familien in Gaza noch um ihre Toten trauern, versuchen andere, mit den Erlebnissen der vergangenen zwei Wochen fertig zu werden. Die hohe Intensität der israelischen Luftangriffe und der Artillerie ist immer wieder Gesprächsthema .

Viele Bewohner im Gazastreifen haben das Gefühl, die letzten Tage seien noch schlimmer gewesen als der lange Krieg 2014. Nach der Waffenruhe am Freitagabend sind viele unterwegs, um einzukaufen, oder auch nur, um sich die Zerstörung im Viertel anzuschauen.

Palästinenser feiern die am 21. Mai verkündete Waffenruhe zwischen Israel und der HamasBild: Ibraheem Abu Mustafa/Reuters

Endlose Eskalation

Für viele ist es ein trauriges Deja-vu. Drei Kriege gab es bereits zwischen der Hamas und Israel, und mehrere kurze militärische Eskalationen in den vergangenen Jahren. Die militante Hamas, die Gaza regiert, hat auch diesmal trotz der Zerstörung wieder ihren Sieg verkündet.

"Ich bin dankbar, dass mir nichts passiert ist,", sagt Tareq Frangi, der gerade zum Einkaufen unterwegs ist. "Aber es ist auch eine konfuse Situation. Ich weiss nicht, ob ich glücklich oder traurig sein soll. Es alles total verwirrend."

Eine andere Passantin ist froh über die Waffenruhe, glaubt aber nicht daran, das sich irgendetwas zum Positiven verändern wird für die Bevölkerung in Gaza - zum Beispiel eine Lockerung der Blockadepolitik oder weniger strikte Reisebeschränkungen. "Es wird nichts Gutes dabei rauskommen," sagt Susanne Abu Shaban. "Ich denke, viele würden Gaza verlassen, wenn sie nur könnten."  

Schwieriger Wiederaufbau

Noch wird der genaue Schaden ermittelt, doch schon jetzt ist absehbar, dass die Schäden der jüngsten Eskalation gewaltig sind. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind mehr als 750 Wohneinheiten zerstört worden, und mehrere tausend Häuser und Geschäfte haben Schäden davongetragen.

Während des Konflikts mussten mehr als 70.000 Menschen ihre Häuser verlassen und vorübergehend Schutz in UN-Schulen suchen. Auch 53 Schulen, elf Kliniken - so die bisherige Schätzung -  sowie Wasser-, Abwasser- und Stromleitungen wurden beschädigt. Dies alles verschärft die bereits seit langem vorherrschende wirtschaftliche Krise mit hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut.

Der Gazastreifen wird seit über 14 Jahren von Israel, aber auch mitunter von Ägypten abgeriegelt. Israel hat seine Kontrolle über Land-, Luft- und Meeresgrenzen weiter verschärft, seit die militante Hamas die Macht im Gazastreifen von der Palästinensischen Autonomiebehörde übernommen hat.

Palästinensische Einwohner in Gaza nennen die Blockadepolitik "eine kollektive Bestrafung." Da Israel Importe und Exporte strikt kontrolliert, dürfte auch die Einfuhr von Baumaterialien durch den Kerem Shalo-Übergang nach Gaza in Zukunft kompliziert bleiben.

Im Januar 2018 entdeckte ein israelischer Soldat einen Tunnel an der Grenze zu Gaza, der vermutlich von der Hamas angelegt wurdeBild: picture alliance/AFP/J. Guez

Israel kontrolliert Güterverkehr 

Damit soll verhindert werden, dass Materialien in den Gazastreifen gelangen, die auch für den Bau von Tunneln und anderer militärischer Infrastruktur verwendet werden könnten. Nach dem letzten Krieg 2014 wurde ein spezieller Mechanismus für den Wiederaufbau von Gaza geschaffen. Damit wurde der direkte Kontakt zur Hamas umgangen, die in den meisten Ländern als Terrororganisation eingestuft wird.

Der Wiederaufbau werde 'immens' sein, sagt auch Mohamed Abu Mughaiseeb, stellvertretender medizinischer Koordinator der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Gaza. In einer der Kliniken der Organisation in Gaza-Stadt wurden die Sterilisationseinheit und der Warteraum durch Luftangriffe in der Nachbarschaft beschädigt.

Der Wiederaufbau sei das eine, aber auch die mentale Gesundheit sei wichtig. "Die zwei Millionen Menschen werden mit vielen psychologischen Problemen in den nächsten Jahren zu tun haben," sagt Abu Mughaiseeb. "Die Bombardierungen waren sehr intensiv. Die elf Tage haben sich wie elf Jahre angefühlt."

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