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Gaza: Menschen stehen vor Ruinen und ungewisser Zukunft

Tania Krämer | Hazem Balousha
13. Oktober 2025

Israel zieht sich langsam aus dem Gazastreifen zurück, Menschen kehren zu ihren Häusern zurück. Sie stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Bei vielen Palästinensern überwiegt die Verzweiflung.

Palästinensische Gebiete Chan Junis 2025 | Palästinenser kehren durch Trümmer in ihre Nachbarschaft zurück
Palästinenser kehren durch Trümmer in ihre Nachbarschaft zurückBild: Ramadan Abed/REUTERS

Nesreen Hamad wartet händeringend auf weitere Nachrichten von ihrem Mann. Während sie mit den drei Kindern an ihrem Zufluchtsort im zentralen Gazastreifen ausharrt, hat er die beschwerliche Reise nach Sheikh Radwan, einem Viertel im Norden von Gaza-Stadt, angetreten: "Mein Mann ist heute [Sonntag] zu unserem Haus gefahren. Wir wussten, dass es bombardiert worden war, aber es mit eigenen Augen zu sehen, machte es noch schmerzhafter", sagt Hamad der DW am Telefon. Das Haus wurde vollständig zerstört und ein Großteil des Viertels ist nicht wiederzuerkennen.

Ihr Mann ist unter den Zehntausenden, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind, nachdem Israel am Freitagmittag die Waffenruhe angekündigt hatte. Videos zeigten einen schier endlosen Strom von Menschen, die sich meist zu Fuß entlang der Küstenstraße auf den Weg in den zuvor evakuierten Norden des Gazastreifens machten.

Ein fragiles Waffenstillstandsabkommen

In Laufe der vergangenen Woche hatten die Hamas und Israel nach intensiven indirekten Verhandlungen einem von den Vereinigten Staaten vorgeschlagenen 20-Punkte-Plan zugestimmt. Das Abkommen soll den seit zwei Jahren andauernden Krieg zwischen Israel und der Hamas vollständig beenden.

Der Wiederaufbau in Gaza-Stadt wird wahrscheinlich Jahre dauernBild: Nesreen Hamad

Viele der umstrittenen Punkte des ehrgeizigen US-Plans müssen noch im Detail erörtert werden. Im Rahmen der ersten Phase ließ die Hamas am Montag die verbliebenen 20 noch lebenden Geiseln frei, während Israel fast 2000 palästinensische Gefangene entlassen wird, von denen viele ohne Anklage festgehalten werden. Die Leichen der verbleibenden 28 toten Geiseln sollen ebenfalls übergeben werden.

Der Krieg begann am 7. Oktober 2023, als die Hamas - die von den USA, der EU und anderen als Terrororganisation eingestuft wird - Angriffe auf mehrere israelische Dörfer, Militärstützpunkte und das Nova-Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens startete. Nach Angaben der israelischen Behörden wurden dabei rund 1200 Menschen ermordet und rund 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.  

Zurück bleiben "psychische Wracks" 

Hamad sagt, sie sei zwar erleichtert, dass die israelischen Bombardierungen aufgehört haben. Doch der endgültige Verlust ihres Hauses sei nur eine von vielen schmerzhaften Erinnerungen an die vergangenen zwei Jahre des Überlebenskampfes: 17 Mal sei sie in dieser Zeit vertrieben worden.

"Der Krieg ist vorbei, Gott sei Dank, aber erst nachdem er alles in uns getötet hat. Er hat Freunde, Verwandte und Nachbarn getötet. Er hat Gaza zerstört. Er hat uns in psychische Wracks verwandelt. Er hat uns Krankheiten eingepflanzt, weil es keine Medikamente gab, weil wir vertrieben wurden und der Krieg die Umwelt verschmutzt hat", sagte Hamad. "Ich hoffe, dass der Krieg nie mehr zurückkehrt und dass wir nie wieder Angst erleben müssen."

Gaza-Stadt gleicht einem TrümmerfeldBild: Dawoud Abu Alkas/REUTERS

Die Vereinten Nationen schätzen, dass seit Kriegsbeginn etwa zwei Drittel der Gebäude in Gaza beschädigt oder zerstört wurden. Die von der Hamas geführte Gesundheitsbehörde in Gaza berichtet, dass während des zweijährigen Krieges mehr als 67.000 Menschen - hauptsächlich Zivilisten - getötet wurden. Die unabhängige internationale Untersuchungskommission der UN für die besetzten palästinensischen Gebiete bezeichnete den Krieg als Völkermord - ein Vorwurf, den Israel entschieden zurückweist.

"Alles wegen der Hamas und Israel"

Doch nicht alle waren den Evakuierungsaufrufen gefolgt, die das israelische Militär zuletzt Anfang September ausgab, bevor es seine Angriffe zur Besetzung der Stadt intensivierte. Mahmoud Afif konnte sich mit seinen sechs Kindern weder den Transport noch eine Unterkunft im Süden des Gazastreifens leisten. "Ich bin zwischen drei Orten im Westen von Gaza-Stadt hin- und hergezogen, und, Gott sei Dank, haben all meine Kinder und ich überlebt", sagt er am Telefon aus Gaza-Stadt. 

Sein Haus sei jedoch dem Erdboden gleichgemacht worden: "Ich habe mein Haus verloren, das ich mein ganzes Leben lang unermüdlich mit meinen Brüdern aufgebaut hatte, und das alles wegen der Hamas und Israel", sagte er. "Alles, was in den letzten zwei Jahren in Gaza passiert ist, hat nichts bewirkt. Im Gegenteil, es hat Gaza um Jahre zurückgeworfen. Israel hat sich für viele Jahre Feinde geschaffen."

Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) haben sich teilweise auf die für die erste Phase des Abkommens vereinbarte Linie zurückgezogen. Dennoch halten sie nach eigenen Angaben immer noch mindestens 53 Prozent des Gebiets. Ein Armee-Sprecher erklärte, dass viele Gebiete, vor allem im Norden, Osten und Süden, weiterhin nicht von Palästinensern betreten werden dürfen und dass eine Annäherung an diese Gebiete "lebensgefährlich" sein könnte.

"Die Hölle geht weiter"

Faten Lubbad, eine junge Palästinenserin aus Sheikh Radwan, hat mit ihrer Familie Zuflucht in der Zelle eines ehemaligen Gefängnisses in Chan Junis im mittleren Gazastreifen gefunden. Lange trotzten sie der großen Gefahr und blieben entschlossen, in der Nähe ihres Hauses im Norden von Gaza-Stadt zu bleiben. Der massive Vorstoß der israelischen Armee auf Gaza-Stadt im September habe ihnen jedoch keine andere Wahl gelassen, dann doch Richtung Süden zu fliehen.

Lubbad wirkt erschöpft und erschüttert. Sie selbst sehe für sich keine Zukunft mehr in Gaza-Stadt: "In den Norden zurückzukehren ist sinnlos, wenn wir unser Zuhause verloren haben. Wir können dort vorübergehend leben, bis wir neue Pässe haben, um der Hölle von Gaza zu entkommen." Sie wolle zunächst nach Ägypten oder in ein anderes Land, sagt Lubbad. "Der Krieg in Gaza mag vorbei sein, aber die Hölle geht weiter."

Gebremste Hoffnungen für die Zukunft 

Zweifel daran, ob und wie lange der Waffenstillstand hält, treibt viele Menschen in Gaza um. Mitte März hatte Israel eine Waffenruhe einseitig beendet und die Kämpfe mit unverminderter Härte wieder aufgenommen. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu droht, dies wieder zu tun, sollte die Hamas ihre Waffen nicht abgeben.

Ohnehin fällt es Vielen gerade schwer, sich eine Zukunft auszumalen angesichts der schier grenzenlosen Zerstörung. Eltern wie Nesreen Hamad machen sich zudem Sorgen um die Schulbildung und die Gesundheit ihrer Kinder. Seit zwei Jahren sind sie nicht mehr zur Schule gegangen. Große Teile des Gesundheitssystems im Gazastreifen sind zerstört. Und obwohl das Abkommen Hilfslieferungen vorsieht, ist unklar, wie viele Hilfsgüter Israel über die Grenzübergänge lässt.

Die zurückkehrenden Palästinenser blicken in eine ungewisse ZukunftBild: Bashar Taleb/AFP

Mittelfristig stellt sich auch die Frage, wer den Gazastreifen künftig regieren soll. Der Plan sieht eine technokratische Verwaltung unter palästinensischer Führung vor, überwacht durch eine internationale Gruppe mit US-Präsident Donald Trump an der Spitze und dem britischen Ex-Premier Tony Blair in einer Schlüsselposition

Die Wünsche der Bewohner würden dabei weitgehend übergangen. "Ich will weder die Hamas noch irgendeine andere palästinensische Gruppierung", sagte Nesreen Hamad. "Jede internationale Organisation, die uns regieren und den Gazastreifen wieder aufbauen kann, wäre willkommen."

Mahmoud Afif sieht das ähnlich: "Ich weiß nicht, wer den Gazastreifen regieren wird, aber ich weiß, dass ich niemanden aus der vorherigen Ära haben will." Gemeint ist damit vor allem die militant-islamistische Hamas, die die Palästinensische Autonomiebehörde 2007 aus dem Gazastreifen verdrängte und die Macht in dem Küstenstreifen übernahm. "Ich hoffe für meine Kinder", sagt Afif: "Wer auch immer das Volk führt, soll den Menschen eine bessere Zukunft bieten."

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