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PolitikNahost

Gaza-Krieg: Sorge vor Radikalisierung in der Region

Cathrin Schaer
22. Dezember 2023

In den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas wächst die öffentliche Wut über Israels anhaltende Bombardierungen im Gazastreifen. Wird diese Wut zum Nährboden für gewalttätigen Extremismus?

Gaza Angriffe
Bilder des Ausmaßes von Krieg und Zerstörung in Gaza wie dieses emotionalisieren die Menschen in der RegionBild: Mohammed Abed/AFP/Getty Images

Omar Rammal ist desillusioniert: "Ich will ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Filme nicht mehr sehen, ihre Lieder nicht mehr hören und auch nicht mehr ihren Berühmtheiten folgen", schrieb der 26-jährige Filmregisseur aus Jordanien zuletzt in einem Instagram-Post.

"Für mich sind sie alle gleich", umriss der preisgekrönte Regisseur mit fast 800.000 Followern seine Empfindungen hinsichtlich der westlichen Welt. "Die Menschen dort betrachten uns als weniger menschlich als sich selbst."

Rammal ist palästinensischer Abstammung und von dem Konflikt in Gaza emotional womöglich stärker betroffen als viele andere Menschen im Nahen Osten und Nordafrika. Doch er ist mit seiner Ansicht bei weitem nicht allein.

Seit dem Angriff der militant-islamistischen und von Deutschland, der EU, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuften Hamas auf Israel am 7. Oktober bombardieren die israelischen Streitkräfte den von zwei Millionen Menschen bevölkerten Gazastreifen, auch Bodentruppen sind im Einsatz. 

Annäherung unterbrochen: Die Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien liegen derzeit infolge von Terror und Krieg auf EisBild: picture alliance/Zoonar

Eine Flut von Kriegsbildern

Die ununterbrochene Flut von Videos und Bildern aus dem Kriegsgebiet entsetzt viele Menschen in einer Region, die überwiegend muslimisch geprägt ist und in der die Palästinenser vielen traditionell als "Brüder" gelten. Zudem scheinen die Bombardierungen und die steigende Zahl der Todesopfer, insbesondere auch viele verbreitete Videos von getöteten und verletzten Kindern, die Einstellungen gegenüber Israel in der Region weiter zu verschärfen. Darauf deutet eine Umfrage der in den USA ansässigen Forschungsorganisation Arab Barometer hin.

Am 7. Oktober - dem Tag des Terrorüberfalls der Hamas auf Israel - hatte die Forschungsorganisation mit Sitz an der Princeton University gerade erst die erste Hälfte einer ihrer regelmäßigen Meinungsumfragen in Tunesien fertiggestellt. Die andere Hälfte der Studie setzte sie fort, als die Bombardierung des Gazastreifens bereits im Gange war und weiter zunahm. 

"In nur 20 Tagen haben sich die Ansichten der Tunesier über die Welt in einer Weise verändert, wie es sonst selten vorkommt, nicht einmal im Laufe einiger Jahre", fassten die Forscher die Ergebnisse ihrer Arbeit zusammen. Nicht nur das Image Israels hatte sich noch einmal deutlich verschlechtert, sondern auch jenes von Ländern, die als Israel-Unterstützer (USA) oder Interessenten für eine Annäherung an Israel (Saudi-Arabien) wahrgenommen werden.

Sorge vor der Wut der Jugend

Zwar bezieht sich die Studie ausschließlich auf Tunesien. Doch Äußerungen hochrangiger Politiker aus dem gesamten Nahen Osten sowie Postings, Debatten  und Kampagnen auf Social Media lassen deutlich erkennen, dass ähnliche Ansichten vielfach auch in anderen Teilen der Region vertreten werden.

Mitte November erklärte beispielsweise der vielfach als Partner des Westens beschriebene jordanische König Abdullah II. bei einem Treffen mit EU-Beamten, der Gaza-Konflikt werde die Radikalisierung in der Region auf Jahrzehnte hinaus anheizen. Und nur wenige Tage zuvor hatte ein arabischer Außenminister, dessen Name anonym blieb, gegenüber einem BBC-Journalisten geäußert, er sei besorgt über die Auswirkungen des Konflikts auf die jungen Menschen in seinem Land. Was derzeit in Gaza geschehe, führe zu einer Radikalisierung der Jugend. Die jungen Leute würden zunehmend wütend auf Berichte und Videos von dort reagieren.

Israelische Soldaten nahe der Grenze zum Gazastreifen, Mitte Dezember 2023Bild: Ohad Zwigenberg/AP Photo/picture alliance

Der ägyptische Journalist Hossam el-Hamalawy meint im Gespräch mit der DW, dass sich während des Gaza-Konflikts auch die Meinung vieler seiner Landsleute über Deutschland geändert habe. Schon wiederholte deutsche Waffenlieferungen an die autoritäre Regierung in Kairo seien bei vielen Ägyptern auf Kritik gestoßen, so el-Hamalawy, der sich als Forscher und politischer Aktivist versteht. "Die bedingungslose Unterstützung Deutschlands für die anhaltenden israelischen Angriffe auf Gaza" - so sieht es el-Hamalawy - habe viele Ägypter nun "zusätzlich entzürnt". Auf Sicherheits-Maßnahmen, die in Deutschland offiziell mit der notwendigen Abwehr von gesetzeswidriger Hass-Propaganda und der Bekämpfung von Antisemitismus begründet werden, hat er einen anderen Blick: Viele Menschen in Ägypten und der arabischen Welt seien "schockiert" gewesen, als sie sahen, wie die Polizei bei Demonstrationen offenbar "Racial Profiling" bezüglich arabischstämmiger Demonstranten unternommen und Proteste teils gewaltsam unterbunden habe: "Als wäre hier eine nicht-westliche Diktatur am Werk."

Solidarität mit Palästinensern bestimmt die Agenda

Die sich offenbar verhärtende Haltung vieler Menschen in der Region geht stark auf die aktuellen Ereignisse zurück. Droht sie auch längerfristige Auswirkungen haben?

Meinungsumfragen haben immer wieder belegt, dass die so genannte Palästinenserfrage im Nahen Osten bereits vor Beginn des aktuellen Konflikts viele Menschen dort stark beschäftigt hat. Aus Umfragen in jüngster Zeit ging zudem hervor, dass viele Bürger die von mehreren Staaten betriebene oder beabsichtigte Normalisierung der Beziehungen zu Israel längst nicht so enthusiastisch begrüßen wie die politische Elite.

"Kein Regime, sei es demokratisch oder nicht, kann sich der Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit vollständig entziehen, sagt Salma al-Shami, Forschungsdirektorin des Arab Barometer-Projekts, im DW-Gespräch. 

Zu erwarten scheint demnach, dass das Schicksal der Palästinenser und die Frage ihrer Eigenstaatlichkeit auch künftig stark im Fokus der öffentlichen Debatten in vielen Ländern in Nahost und Nordafrika bleiben wird. 

Dass diese Entwicklung auch zu mehr Gewalt und Extremismus in Europa oder den USA führen könnte, scheint zumindest nicht ausgeschlossen. Anfang dieses Monats warnte die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, die gesellschaftliche Polarisierung lasse das Risiko von Gewalt in Europa steigen.

Zwar hat der Gaza-Konflikt in Europa und den USA zu einer emotionalen Spaltung sowie zu einer Zunahme rassistischer, antisemitischer wie umgekehrt auch islamfeindlicher Handlungen und Äußerungen geführt. Laut Angaben von unter anderem der Jewish Virtual Library und der US-Geheimdienste hat die Hamas - zumindest bisher - außerhalb Israels und der Palästinensischen Gebiete keine terroristischen Handlungen begangen.

Pro-palästinensische Solidaritätskundgebung in Tunis, Mitte Oktober 2023Bild: Hasan Mrad/Zumapress/picture alliance

Extremisten im Aufwind?

Allerdings rufen Terrorgruppen mit einer globaleren Ausrichtung wie Al-Kaida und der "Islamische Staat" bereits zu Anschlägen gegen Juden auf, so Tanya Mehra vom International Centre for Counter-Terrorism in Den Haag im DW-Gespräch. Sie befürchtet: "Je länger der Konflikt andauert, desto mehr könnten sie (erfolgreich) Mitglieder rekrutieren."

"Eine zunehmende Radikalisierung bereitet zwar Anlass zu Sorge", räumt auch Salma al-Shami vom Arab Barometer ein. Ihr Fokus ist jedoch ein anderer: Die Palästinensischen Gebiete seien nicht nur sicherheitspolitisch von Bedeutung, so al-Shami. Es gehe dort auch um Menschenrechte, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Damit drückt sie eine weit verbreitete Haltung in der Region aus: "Die arabische Öffentlichkeit hat in ihrer Haltung und ihrem Handeln immer wieder bekräftigt, dass diese Werte mehr verdienen als nur ein Lippenbekenntnis."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Wie man Desinformation im Nahost-Krieg erkennt

04:17

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