Gaza-Krieg: Welche Folgen hat Israels Bodenoffensive?
16. September 2025
Nach Tagen des Bombardements hat Israel nun seine Bodenoffensive in Gaza-Stadt begonnen - trotz aller Warnungen auch vom eigenen Militär. Erwartet werden schwere Kämpfe mit der von vielen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuften Hamas. Nach palästinensischen Angaben wurden allein bis zum Dienstagmorgen mindestens 35 Menschen getötet. Aber auch politisch und humanitär hat die Offensive weitreichende Folgen. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Wie stark war Gaza-Stadt bisher durch die israelische Offensive betroffen?
Auch in der Vergangenheit war die Stadt wiederholt vom israelischen Militär attackiert worden. Dabei wurden auch Schulgebäude, Flüchtlingslager oder Notunterkünfte getroffen. So beschoss Israel Ende Mai 2025 die Fahmi al-Dschardschawi-Schule, die damals als Flüchtlingsunterkunft diente. Dabei wurden nach palästinensischen Angaben 33 Personen getötet und Dutzende verletzt, überwiegend Kinder, so der Sprecher des palästinensischen Zivilschutzes gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Israel erklärte, der Schlag habe sich gegen palästinensische Terroristen gerichtet.
Wie im Gazastreifen wurde die Infrastruktur auch in Gaza-Stadt massiv beschädigt. Allein in der Gemeinde Gaza habe es Schäden von 7,29 Milliarden US-Dollar gegeben, zitierte der Nachrichtensender Al-Jazeera bereits im April 2024 aus einem Report der Vereinten Nationen und der Weltbank. Ein im September von dem Ausbildungs- und Forschungsinstitut der Vereinten Nationen (UNITAR) veröffentlichter Bericht spricht von insgesamt 36.611 beschädigten Gebäuden, von denen 8.578 völlig zerstört sind.
Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi zitierte Ende August 2025 aus einer Pressekonferenz der UN. Demnach sind seit Mitte März 796.000 Menschen auf der Flucht. Rund 95 Prozent dieser Bewegungen gingen auf Gazas-Stadt zurück, zitiert die Agentur die UN-Sprecherin Daniela Gross.
Wie stark ist die Hamas noch?
Israel geht laut Agenturangaben davon aus, dass sich derzeit bis zu 3000 kampfbereite Mitglieder der islamistischen Terrororganisation in der Stadt aufhalten. Ihr beispielloser Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 löste den Krieg im Gazastreifen aus. In einem Interview mit der Deutschen Welle von Anfang September 2025 erklärte Militärexpertin Marina Miron vom King's College London, dass eine genaue Einschätzung über die Schlagkraft schwierig sei. Die Hamas habe jedoch weiterhin die Kontrolle über die Stadt, der Kampf werde wahrscheinlich hart und blutig werden.
"Das wird eine äußerst schwierige Operation", sagte Miron. "Denn die Hamas hat nichts mehr zu verlieren." Die verbliebene städtische Infrastruktur - insbesondere Hochhäuser und enge Gassen - könnte der Gruppe taktisch zugutekommen.
Die jüdisch-amerikanische Lobbyorganisation J-Street sprach in einem Papier vom 2. September 2025 von einer erheblichen Schwächung der Hamas. Vor Beginn des Krieges verfügte der militärische Flügel der Organisation über rund 30.000 Kämpfer, organisiert in fünf Brigaden und 24 Bataillonen. Nach Angaben der israelischen Streitkräfte (IDF) wurden bis zu 23.000 dieser Kämpfer getötet und 20 Bataillone zerschlagen.
Die Hamas habe sich von einer paramilitärischen Organisation zu einer dezentralen Guerillatruppe gewandelt. Trotz der hohen Verluste soll sie Berichten zufolge bis zu 30.000 neue Kämpfer rekrutiert haben - allerdings größtenteils ohne militärische Ausbildung, erklärte J-Street.
Was bedeutet die Offensive für die Bevölkerung?
Fast alle der rund zwei Millionen Einwohner Gazas sind laut den Vereinten Nationen in dem fast zweijährigen Krieg bereits geflohen, viele von ihnen schon mehrmals. Nun müssen wieder hunderttausende Menschen fliehen, die ohnehin schon zerstörte Stadt könnte nach Einschätzung der UN durch den Einsatz explosiver Waffen "faktisch unbewohnbar" werden.
Nach israelischen Militärangaben haben - Stand Dienstagvormittag - bereits rund 40 Prozent der Zivilisten die Stadt bereits verlassen. Die Armee hat die Menschen in Gaza laut Agenturen dazu aufgerufen, sich in eine sogenannte humanitäre Zone im Süden des Küstenstreifens zu begeben. Doch auch dort gab es in der Vergangenheit immer wieder tödliche Angriffe.
Edouard Beigbeder, UNICEF-Regionaldirektor für den Nahen Osten und Nordafrika, warnte an diesem Dienstag vor "den verheerenden Folgen für über 450.000 Kinder", die ohnehin schon traumatisiert und erschöpft wären. Bereits Ende August hatten die Vereinten Nationen und andere Hilfsorganisationen erstmals für den Verwaltungsbezirk Gaza, in dem auch Gaza-Stadt liegt, den Zustand einer Hungersnot erklärt.
Was bedeutet die Offensive für die israelischen Geiseln?
Das Leben der Geiseln ist durch die Bodenoffensive zusätzlich bedroht. So zitierte Ende August die Jerusalem Post den inzwischen vom israelischen Militär getöteten Sprecher des militärischen Flügels der Hamas, Abu Obeida, mit den Worten, dass die israelischen Geiseln zusammen mit ihren Kämpfern unter denselben gefährlichen Bedingungen in Kampfgebieten festgehalten würden. Mit "Kampfgebieten" war Gaza-Stadt gemeint.
Auch die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, sieht das Leben der Geiseln durch die Bodenoffensive bedroht. "Der anhaltende Angriff, um die letzten Überreste von Gaza einzunehmen, wird nicht nur die Palästinenser gefährden, sondern auch die verbleibenden israelischen Geiseln", erklärte sie Mitte September auf einer UN-Pressekonferenz in Genf.
Wie wird die Offensive in Israel diskutiert?
Das Forum der Angehörigen der von der Hamas festgehaltenen Geiseln äußerte große Besorgnis angesichts der Berichte über die in der Nacht begonnene Einnahme der Stadt Gaza. Nach 710 Nächten in der Gewalt von Terroristen "könnte heute Nacht die letzte Nacht für die Geiseln sein", hieß es in einer Erklärung des Angehörigenforums, die die Nachrichtenagentur dpa verbreitete .
Auch bei der restlichen Bevölkerung Israels wächst die Kritik am Gaza-Krieg und den Plänen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Immer wieder kommt es zu Massenprotesten, zuletzt vor rund einer Woche vor Netanjahus Residenz in Jerusalem. Tausende Menschen forderten ihn auf, einen Deal mit der Hamas einzugehen, auch weil sie um das Leben ihrer Angehörigen bei einer Einnahme von Gaza-Stadt fürchten.
Laut aktuellen Umfragen des überparteilichen Israel Democracy Institute (IDI) befürworten mittlerweile rund zwei Drittel der israelischen Bevölkerung ein Abkommen, das die Freilassung aller Geiseln im Austausch gegen eine Einstellung der Kämpfe sowie den vollständigen Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen vorsieht. Den meisten Menschen geht es dabei laut der IDI vor allem um das Schicksal der Geiseln und das der eigenen Soldaten - und weniger um die Lage der Palästinenser.
Wie reagiert die arabische Welt?
Die arabische Welt reagiert eher zurückhaltend. Am Montag dieser Woche fand in Doha ein Gipfeltreffen arabischer und islamischer Staats- und Regierungschefs statt. Dort äußerten sich einzelne Regierungschefs zwar äußerst kritisch über das israelische Vorgehen in Gaza. Der Gastgeber des Treffens, der katarische Emir Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, ging sogar soweit, Israel eines angeblichen Völkermords zu bezichtigen - ein Vorwurf, den Israel vehement zurückweist. Und der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi bezeichnete Israel sogar als "Feind" - ungeachtet des Friedensvertrags, den Israel und Ägypten 1979 geschlossen haben.
Doch auf derart harte Äußerungen mochten sich nicht alle in Doha anwesenden Politiker einlassen. So enthält die Abschlusserklärung die Forderung, "alle möglichen rechtlichen und wirksamen Maßnahmen zu ergreifen, um Israel an der Fortsetzung seiner Aktionen gegen das palästinensische Volk zu hindern." Außerdem heißt es, "alle Staaten" sollten "die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel überprüfen" und juristische Schritte gegen das Land einleiten.
Es sei zudem nicht ausgeschlossen, dass sich einzelne Staaten weitere Schritte vorbehalten, sagte Philipp Dienstbier, Leiter des Regionalprogramms Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), kürzlich im DW-Interview. Er verweist etwa auf die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain. Beide Staaten haben vor einigen Jahren Normalisierungsvereinbarungen, die sogenannten Abraham-Abkommen, mit Israel unterzeichnet. "Dennoch sind Abu Dhabi und Manama wahrscheinlich nicht bereit, diese Abkommen unter allen Umständen aufrechtzuerhalten", sagt Dienstbier.