Gaza: Wie schwer es ist, an Lebensmittel zu kommen
5. Juli 2025
Es ist nun über eine Woche her, dass Mahmoud Qassem seinen Sohn Khader das letzte Mal lebend sah. Der 19-Jährige hatte versucht, zu einem der Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Zentrum des Gazastreifens zu gelangen.
"Das letzte Mal, dass seine Mutter und ich von ihm hörten, war gegen 23 Uhr in dieser Nacht. Er sagte mir, er sei an einem sicheren Ort - er war zum Verteilzentrum in Netzarim gegangen. Ich sagte ihm, er solle gut auf sich aufpassen", erzählt Qassem der DW. Die Familie lebt momentan in einem Zelt im Yarmouk-Fußballstadion in Gaza-Stadt.
"Um 1 Uhr morgens versuchte ich erneut, ihn anzurufen, aber da war er schon nicht mehr erreichbar. Ich wurde langsam unruhig. Ich hörte die ganze Zeit nichts von ihm und wartete bis Freitag um 14 Uhr. In mir brannte es wie Feuer,” sagt der 50-jährige Vater, der Schlimmes ahnte.
Qassem machte sich selbst auf den Weg nach Nusseirat, und von dort ins Krankenhaus, um nach seinem Sohn zu suchen. Dort erhielt er die Nachricht, dass sein Sohn wahrscheinlich unter den Toten sei, die noch im militärischen Sperrgebiet liegen. Nach langwieriger Koordination mit dem israelischen Militär konnte er schließlich geborgen werden, erzählt Mahmoud Qassem. Sein Sohn war durch fünf Schüsse gestorben.
"Ein 19-jähriger Junge, der noch nicht einmal angefangen hatte, sein Leben zu leben - und das nur, weil er eine Kiste Essen holen wollte", sagt er und kann seine Tränen kaum zurückhalten. Er macht sich Vorwürfe, das er ihn nicht zurückgehalten hat. Sein Sohn hatte trotz der Gefahr darauf bestanden, für seine Familie zu sorgen.
"Die Situation hier ist unbeschreiblich. Die Menschen opfern sich, um zu überleben. Nur Gott weiß, was wir durchmachen. Niemand hat Mitleid mit uns - weder die Hamas, noch Israel, noch die arabischen Länder, niemand,” sagt Qassem.
Lebensmittel und andere Güter extrem knapp
Fast täglich berichten Medien über Gewalt, Verletzte und Tote im Zusammenhang mit der Verteilung von Lebensmitteln und Hilfsgütern. Dies verdeutlicht die unerträgliche Realität, mit der die 2,3 Millionen Einwohner Gazas konfrontiert sind, die fast vollständig von Lieferungen über die Grenzübergänge zu Israel abhängig sind.
Selbst nach der Wiederaufnahme von Hilfslieferungen in geringem Umfang durch die Vereinten Nationen und der Einrichtung der umstrittenen Verteilungszentren - von denen derzeit drei in Betrieb sind - durch die GHF, eine amerikanisch-israelische Organisation, sind Lebensmittel und andere Versorgungsgüter in Gaza äußerst knapp. Im März hatte Israel die Einfuhr von Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern nach Gaza vollständig untersagt.
Israels Regierung rechtfertigte die Blockade damit, dass die Hamas Hilfsgüter stehle und sie zur Finanzierung ihrer Organisation nutze. Die Vereinten Nationen und andere internationale sowie lokale Hilfsorganisationen weisen dies zurück und weisen darauf hin, dass sie seit Jahren über ein gut etabliertes Netzwerk und einen funktionierenden und robusten Verteilungsmechanismus in Gaza verfügen würden.
Immer wieder Plünderungen
Aufgrund des extremen Mangels wurden Hilfsgütertransporte in den letzten Wochen wiederholt geplündert, entweder von bewaffneten Banden oder von verzweifelten Menschen, die versuchen, an Lebensmittel zu gelangen. Unterdessen hat die israelische Armee in den letzten Tagen ihre Luftangriffe intensiviert und weitreichende Evakuierungsbefehle für große Teile des nördlichen und südlichen Gazastreifens erlassen.
Saeed Abu Libda, ein 44-jähriger Vater von fünf Kindern, konnte kürzlich einen Sack Mehl von einem UN-Lastwagen in der Nähe von Khan Younis ergattern. "Ich weiß, dass es riskant war, aber wir müssen irgendwas zu Essen bekommen", sagt er der DW am Telefon, da ausländischen Journalisten kein Zutritt zum Gazastreifen gewährt wird.
Abu Libda berichtet, dass Tausende von Menschen auf die Lastwagen gewartet hätten, als er plötzlich zwei Panzergranaten explodieren hörte. "Ich sah Menschen am Boden liegen. Einige waren verletzt, andere in Stücke gerissen. Ich wurde durch einen Splitter am Bauch verletzt, glücklicherweise war die Verletzung aber nur leicht."
Viele Tote an Verteilstellen
Laut Medienberichten wurden in den letzten Wochen hunderte Menschen in der Nähe von Lebensmittelverteilungsstellen getötet. Das Gesundheitsministerium im von der Hamas regierten Gazastreifen beziffert die Zahl der Menschen, die in den letzten Wochen durch israelische Luftangriffe, Schüsse und Bombardierungen getötet wurden, auf mehr als 500. Die meisten dieser Opfer waren demnach unterwegs um Essen und Hilfe zu bekommen, in der Nähe von den GHF-Zentren oder von Lastwagen mit Hilfsgütern.
Das israelische Außenministerium weist diese Opferzahlen zurück und beschuldigt die Hamas in einem Beitrag auf X, auf Zivilisten geschossen zu haben. Aussagen von Bewohnern des Gazastreifens würden zeigen, dass die Hamas "falsche Behauptungen verbreitet, die IDF beschuldigt, bei der Zahl der Opfer übertreibt und gefälschte Aufnahmen in Umlauf bringt".
Am Dienstag forderten über 130 der weltweit tätigen Hilfsorganisationen und NGOs, darunter Oxfam und Save the Children, die Schließung der GHF. Tausende hungernde Menschen werden in militarisierte Zonen gezwungen, wo sie bei dem Versuch, lebensrettende Hilfe zu erhalten, unter Beschuss gerieten, so der öffentliche Aufruf.
Während einer Pressekonferenz in Brüssel erklärte der Vorsitzende der GHF, Johnnie Moore, dass die GHF ihre Arbeit nicht einstellen werde. Die Stiftung habe bis dato mehr als 55 Millionen Mahlzeiten geliefert und sei bereit, mit den Vereinten Nationen und anderen Hilfsorganisationen zusammenzuarbeiten, so Moore. Moore fügte hinzu, das Gesundheitsministerium in Gaza veröffentliche "jeden Tag eine Statistik über zivile Opfer und führt gleichzeitig 100 Prozent dieser zivilen Opfer auf das Warten auf Hilfe zurück - praktisch jedes Mal beim Warten auf unsere Hilfe".
Schießt Israel auf Zivilisten?
Die israelischen Streitkräfte (IDF) haben mehrfach erklärt, dass sie "Warnschüsse" auf Personen abgegeben hätten, die sich militärischen Stellungen in der Nähe von Hilfsgüterverteilungsstellen genähert hätten. Sie haben jedoch keine Informationen über die Zahl von Opfern veröffentlicht.
Die israelische Zeitung Haaretz hatte Ende Juni (27.6.) einen Artikel veröffentlicht, in dem behauptet wurde, israelische Soldaten hätten grünes Licht erhalten, um auf Menschenmengen in der Nähe von Lebensmittelverteilungsstellen zu schießen um sie dadurch von israelischen Truppen innerhalb der militarisierten Zonen fernzuhalten.
In dem Artikel gaben namentlich nicht genannte Soldaten an, es sei auf unbewaffnete Personen geschossen worden, die keine Bedrohung dargestellt hätten. Haaretz berichtet auch, dass das Militär untersuche, ob diese Handlungen gegen das Völkerrecht verstoßen und potenzielle Kriegsverbrechen darstellen.
Israel weist Vorwürfe zurück
In einer gemeinsamen Erklärung wiesen der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz den Artikel umgehend zurück. Sie warfen der Zeitung "böswillige Falschmeldungen" vor, die darauf abzielten, die IDF, "die moralischste Armee der Welt", zu diffamieren.
Auch die IDF selbst wies die Vorwürfe zurück und erklärte in einer Stellungnahme, die von israelischen Medien verbreitet wurde, dass keine Truppen den Befehl erhalten hätten, "absichtlich auf Zivilisten zu schießen, einschließlich derer, die sich den Verteilungszentren nähern".
Drei Tage später, am Montag, erklärte das israelische Militär jedoch, dass die IDF angesichts der "gewonnenen Erkenntnisse" beschlossen habe, die Zufahrtsstraßen und Hilfszentren neu zu organisieren sowie neue Kontrollpunkte und Warnsignale einzurichten, um "Spannungen mit der Bevölkerung zu verringern und die Sicherheit der vor Ort operierenden Truppen zu gewährleisten".
Die Gaza Humanitarian Foundation hat wiederholt ihre Position bekräftigt, dass es an ihren Standorten keine Gewalt gegeben habe und wirft stattdessen ausländischen Medien vor, nicht die Wahrheit zu berichten. "Wir hatten keinen einzigen gewalttätigen Vorfall an unseren Verteilungsstellen. Wir hatten auch keinen gewalttätigen Vorfall in unmittelbarer Nähe unserer Verteilungsstellen", sagt Moore.
Nach den Vorwürfen in Haaretz erklärte die GHF, diese seien "zu schwerwiegend, um sie zu ignorieren", und schlug eine Untersuchung der Vorfälle vor.
Hohe Gefahr für Hilfesuchende
Unterdessen müssen verzweifelte Palästinenser oft lange Wege durch vom Krieg zerstörtes Gelände auf sich nehmen, um Verteilungszentren zu erreichen, die sich in von Israel zu Militärzonen erklärten Gebieten befinden. Diese Zentren sind in der Regel nur für kurze Zeit geöffnet und oft ist unklar, wo sich die Menschen sicher versammeln und warten können.
"Der Weg dorthin ist sehr gefährlich. Ich versuche, nicht vom vorgegebenen Weg abzuweichen", berichtet Ahmed Abu Raida der DW am Telefon aus al-Mawasi im Süden Gazas. Dort lebt er derzeit mit seiner Familie in einem Zelt. "Man wartet auf die Ankündigung, dass die Zentren öffnen und während man wartet, gibt es immer wieder heftigen Beschuss aus mehreren Richtungen.”
Abu Raida sagt, er sei mehrmals zu einer GHF-Ausgabestelle in Rafah gegangen und habe eine vorab verpackte Kiste mit Mehl, Linsen, Nudeln, Tee und Speiseöl erhalten - manchmal auch andere Lebensmittel. "Aufgrund der vielen Menschen herrscht oft großes Chaos," beschreibt er die Erfahrung. "Es gibt keine Kontrolle oder Begrenzung der Anzahl der Kisten, die man mitnehmen darf."
Wie die anderen für diesen Artikel befragten Personen empfindet auch Abu Raida den Prozess, überhaupt an Hilfe zu kommen, insgesamt als demütigend und unfair. Ältere Menschen, Frauen oder hilfsbedürftige Personen hätten kaum eine Chance. "Was können wir tun? Wir haben keinen Zugriff auf andere Lebensmittel, und uns fehlt das Einkommen, um auf den Märkten einzukaufen, wo die Preise wahnsinnig hoch sind", sagt er. "Es ist gerade genug, um zu überleben."