Gazastreifen: Wird die humanitäre Hilfe ausreichen?
11. Oktober 2025
Minuten nachdem die erste Phase des von den USA unterstützten Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas am Freitagmittag Ortszeit in dem palästinensischen Gebiet in Kraft getreten war, erklärte Eyad Amawi vom Gaza Relief Committee (GRC) der DW, dass es vor Ort Anzeichen dafür gebe, dass sich das israelische Militär allmählich zurückziehe.
Beim GRC, das vor Ort humanitäre Organisationen koordiniert, hofft man, dass im nächsten Schritt die zugesagte Hilfe hochgefahren wird: Mehr Nahrungsmittel, Zelte und mobile Unterkünfte sowie schweres Gerät, um Schutt zu beseitigen, Straßen zu räumen und Land für neue Lager vorzubereiten, sollen bereitgestellt werden, damit die Vertriebenen in ihre ursprünglichen Städte zurückkehren können.
Kein Mangel an Hilfsgütern, sondern an Zugang
Philippe Lazzarini, Generalkommissar des UN-Flüchtlingshilfswerks für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), erklärte, es stünden genügend Lebensmittel bereit, um die gesamte Bevölkerung drei Monate lang zu ernähren.
Nach Angaben des Leiters der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen, Tom Fletcher, handelt es sich dabei um rund 10.000 Lkw-Ladungen zu je 15 bis 20 Tonnen Nahrungsmittel, Medikamente und andere humanitäre Hilfsgüter: "Wir werden uns bemühen, die Lieferungen auf Hunderte von Lastwagen pro Tag zu erhöhen", sagte Fletcher am Donnerstag bei einem Briefing in New York. Die UNO werde "die Bereitstellung von Nahrungsmitteln im gesamten Gazastreifen ausweiten, um 2,1 Millionen Menschen zu erreichen, die Nahrungsmittelhilfe benötigen und etwa 500.000 Menschen, die ernährt werden müssen. Die Hungersnot muss in den Gebieten, in denen sie bereits eingetreten ist, zurückgedrängt und in anderen verhindert werden".
Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) stehe bereit, seine humanitäre Hilfe zu verstärken, wenn die Bedingungen vor Ort dies zulassen, sagte Sarah Davis, Sprecherin des IKRK für Israel und die besetzten Gebiete, am Freitag der DW: "Wir sind bereit, im Einklang mit den humanitären Grundsätzen Hilfe zu leisten und sie sicher und wirksam zu verteilen."
EU-Kommissions-Sprecher Anouar El Anouni erklärte der Nachrichtenagentur AP, auch die EU sei bereit, rasch Hilfe zu leisten und den Wiederaufbau und die Sicherheit im Gazastreifen zu unterstützen, falls der Waffenstillstand halte.
Hilfsbedarf im Krieg drastisch gestiegen
Die Bevölkerung des Gazastreifens ist seit langem auf humanitäre Hilfe angewiesen, doch der Krieg Israels gegen die Hamas in den letzten zwei Jahren hat den Bedarf drastisch erhöht. Auslöser dafür waren Terrorangriffe unter Führung der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel, bei denen militante Islamisten mehr als 1200 Menschen ermordeten und etwa 250 Geiseln nach Gaza verschleppten. Seither hat die israelische Armee große Teile des Gebiets zerstört und nach Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsbehörde in Gaza mehr als 67.000 Palästinenser, darunter Zehntausende Kinder, getötet. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung wurden - teils mehrfach - vertrieben.
Nachdem Israel im März 2025 einen Waffenstillstand aufgekündigt und eine gegen den Gazastreifen Blockade verhängt hatte, warnten im Juli die UN und andere internationale Organisationen vor einer akuten Hungersnot.
Wie soll mehr Hilfe nach Gaza gelangen?
Am Freitag erklärte der italienische Verteidigungsminister Guido Crosetto, dass die italienische Polizei am 14. Oktober die Patrouille am Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten wieder aufnehmen werde. Im Jahr 2005 hatte die EU schon einmal eine Mission eingerichtet, um eine neutrale, unabhängige Präsenz an dem Grenzübergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten zu gewährleisten. "In Übereinstimmung mit der Trump-Vereinbarung wird der Grenzübergang Rafah abwechselnd in beide Richtungen geöffnet werden", sagte Crosetto in einer Erklärung.
Im Allgemeinen handelt es sich um einen Fußgängerübergang, doch in den letzten zwei Jahren haben sich auf der ägyptischen Seite der Grenze Lastwagen mit humanitärer Hilfe angesammelt.
Crosetto sagte voraus, dass jeden Tag insgesamt etwa 600 Lastwagen mit humanitärer Hilfe über Rafah und die beiden anderen Grenzübergänge nach Israel, Kerem Shalom und Erez, in den Gazastreifen gelangen würden.
Dies würde der Forderung des UN-Kinderhilfswerks UNICEF entsprechen, Nahrungsmittelhilfe über alle drei Grenzübergänge nach Gaza zu bringen. "Die Situation ist kritisch", sagte UNICEF-Sprecher Ricardo Pires. "Wir riskieren einen massiven Anstieg der Todesfälle bei Kindern, nicht nur bei Neugeborenen, sondern auch bei Kleinkindern, da ihr Immunsystem stärker geschwächt ist als je zuvor."
HRW warnt vor weiteren Todesfällen
"Jetzt ist nicht die Zeit zum Aufatmen", sagte Omar Shakir, Direktor für Israel und Palästina bei Human Rights Watch (HRW), der DW am Freitag.
"Die Palästinenser im Gazastreifen werden weiterhin leiden und sterben, solange Israel seine rechtswidrige Blockade des Gazastreifens aufrechterhält, indem es unter anderem die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen hindert, dringend benötigte Hilfe in großem Umfang zu liefern."
Shakir mutmaßte auch, dass wahrscheinlich bereits Tausende Palästinenser im Gazastreifen an Unterernährung, Dehydrierung und Krankheiten gestorben seien, weil die israelischen Behörden der Bevölkerung dort den Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und anderen lebensnotwendigen Gütern versagten.
Was ist mit der Gaza Humanitarian Foundation?
Es ist derzeit unklar, welche Rolle die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) spielt. Das von Israel und den USA unterstützte Unternehmen hat im Mai die Vereinten Nationen und andere internationale Gruppen als Hauptlieferant von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung des Gazastreifens abgelöst, nachdem Israel die Hamas, die von den USA, Deutschland und vielen anderen Ländern als Terrororganisation eingestuft wird, beschuldigt hatte, Lieferungen zu plündern.
UN-Sprecher Stéphane Dujarric sagte am Donnerstag, ihm sei nicht bekannt, dass die GHF während des Waffenstillstands eine Rolle gespielt habe.
Der Leiter der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen, Tom Fletcher, lobte die Tatsache, dass der von den USA unterstützte Waffenstillstandsplan "die Bedeutung der Rolle der Vereinten Nationen im Zentrum der humanitären Hilfe" hervorhebt.
Israel und die GHF wurden heftig kritisiert, nachdem die israelische Armee, Auftragnehmer oder bewaffnete Banden beschuldigt wurden, Hunderte von palästinensischen Zivilisten bei der Verteilung von Hilfsgütern getötet und verletzt zu haben. Die GHF wies die Vorwürfe zurück und verwies auf die Schwierigkeiten bei der Verteilung von Hilfsgütern in Konfliktgebieten.
In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag auf der sozialen Plattform X erklärte GHF-Exekutivdirektor John Acree, dass sich die Organisation weiterhin verpflichtet fühle, die Menschen in Gaza mit Hoffnung, Würde und Vertrauen zu unterstützen und dass sie gerne mit all jenen zusammenarbeiten wolle, die diese Mission teilten. Er hoffe, dass die kommenden Tage und Wochen einen dauerhaften Frieden bringen werden.