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Warum die Geburtenrate in Deutschland immer weiter sinkt

2. August 2025

Frauen bringen im Durchschnitt noch 1,35 Kinder zur Welt - ein historischer Tiefstand. Alarmsignal für den Wohlstand oder ein Zeichen für die Selbstbestimmung der Frau?

Leere Kinderbetten auf einer Geburtsstation
Leere Kinderbetten auf einer Geburtsstation in DüsseldorfBild: Robert Poorten/IMAGO

Neulich, als Julia Brandner ihr Buch "I'm not kidding" vorstellte, wurde die 30-jährige Influencerin und Comedienne wüst beschimpft. Eine Mutter von drei Kindern, 72 Jahre, ergriff das Wort und attackierte sie vor versammeltem Publikum als Egoistin, so schildert es Brandner der DW. Dabei erntet das Buch, in dem die in Berlin lebende gebürtige Österreicherin mit viel Humor und Offenheit erklärt, warum sie niemals schwanger werden wollte und sich deswegen sterilisieren ließ, auch sehr viele positive Reaktionen.

Über den Hass, der ihr von einigen Seiten entgegenschlägt, sagt sie: "Man wird als Revoluzzerin abgestempelt. Wenn man sagt, man möchte keine Kinder, wird man sehr schnell dafür verantwortlich gemacht, dass man das Rentensystem und den Generationenvertrag sabotiert und dass man selber eigentlich schuld am Aussterben der Menschheit ist."

"Vielleicht sollte man einfach schauen, dass man es für Frauen vereinfacht, Kinder zu bekommen" - Julia BrandnerBild: Andy Sparkles

Die Kritik an Brandner entzündet sich an einer Zahl, die viele junge Frauen als Fortschritt in Sachen Selbstbestimmung feiern, andere dagegen als Vorboten für sinkenden Wohlstand und eine immer weiter schrumpfende Bevölkerung fürchten: 1,35. So lautet die durchschnittliche Zahl der Kinder, die Frauen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 2024 zur Welt gebracht haben. Nur 1,23 beträgt die Geburtenrate bei deutschen Frauen, bei ausländischen Frauen immerhin 1,84. Oder in absoluten Zahlen: 677.117 Kinder, das sind über 15.000 weniger als im Vorjahr.

AfD kapert sinkende Geburtenrate als Thema

Julia Brandner war bei ihrer Sterilisation 28 Jahre, ihre Gynäkologin verlangte für den Eingriff ein psychiatrisches Gutachten über ihre Zurechnungsfähigkeit. Die Wucht der Debatte über ihr Buch hat Brandner auf alle Fälle überrascht.

Sie beobachtet einen zunehmenden Rechtsruck in instabilen Zeiten, hin zu traditionelleren Werten, wo Frauen wieder am Herd stehen und sich um die Kinder kümmern sollten. So hat auch die in Teilen rechtsextreme AfD das Thema der sinkenden Geburtenrate für sich entdeckt und fordert mehr Nachwuchs statt Zuwanderung als Mittel gegen den Fachkräftemangel.

Brandners Kritik: Auch im Jahr 2025 werde das Thema Kinder noch immer fast komplett auf die Frau abgewälzt. "Gerade die vielen alleinerziehenden Mütter lässt man allein, Väter werden dagegen zu wenig in die Pflicht genommen. Kinder zu bekommen ist für Frauen ein riesiges Armutsrisiko. Es kann nicht sein, dass auch heute noch eine Frau ihren Wohlstand opfern muss, damit sie den Wohlstand der Gesellschaft sichert."

Geburtenrate geht weltweit zurück

Es ist nicht so, dass Deutschland beim Thema der sinkenden Geburtenrate allein auf weiter Flur ist. Weltweit gehen die Zahlen drastisch zurück, in Südkorea sogar auf 0,75. Einzige Ausnahme ist die Sahelzone, wo Frauen im Schnitt noch immer über fünf Kinder bekommen.

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Michaela Kreyenfeld ist Soziologin und hat als Sachverständige den Familienbericht der Bundesregierung mitverantwortet. Sie konstatiert einen immer stärkeren Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Krisen und Unsicherheiten und dem Geburtenverhalten. Im DW-Interview sagt sie: "Ist das Egoismus oder einfach selbstbestimmtes Handeln, dass Frauen keine Kinder bekommen möchten? Darüber reden wir spätestens seit den 1970er Jahren, es ist also gar nichts Neues."

Neu seien dagegen die multiplen Krisen. "Die Corona-Pandemie, der rasante Klimawandel und die hohe Inflation. Vor allem für die junge Generation ist das noch einmal eine neue Situation."

"Auf ökonomische Unsicherheiten reagieren Menschen stärker, was nicht schlecht sein muss" - Michaela KreyenfeldBild: Bettina Ausserhofer

Elon Musk und die Pronatalisten propagieren mehr Kinder

In den USA entsteht gerade eine Gegenbewegung, mit dem reichsten Menschen der Welt als prominentestem Vertreter an der Spitze: Die Pronatalisten und Elon Musk wollen so viele Kinder in die Welt setzen wie möglich.

Auch der russische Präsident Wladimir Putin ermahnt die Russinnen, mehr Kinder zu bekommen - wer dagegen Kinderlosigkeit befürwortet, muss bis zu 4000 Euro Strafe zahlen, berichtet Kreyenfeld. Dabei stünden weder das Wohl der Kinder noch der Eltern und schon gar nicht der Frau im Mittelpunkt des Interesses - Stichwort: Teenager-Schwangerschaften. Unter welchen Bedingungen die Kinder geboren werden, sei also zweitrangig.

Ein warnendes Beispiel aus der osteuropäischen Vergangenheit sei Rumänien, so die Soziologin: "Präsident Ceausescu hat damals mit massiven Maßnahmen die Geburtenrate innerhalb eines Jahres von 1,8 auf 4 gepusht, indem er den Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkt und Abtreibungen unter drakonische Strafen gestellt hat. Das Ergebnis war die sogenannte 'Lost Generation' in Rumänien: also die Generation, wo die Eltern sich nicht um ihre Kinder gekümmert haben, weil sie die Kinder gar nicht wollten."

"Fertility gap" - die Lücke zwischen Kinderwunsch und Geburtenrate

Was also tun, um die Geburtenrate wieder zu erhöhen, ohne Druck seitens der Politik? Die Antwort weiß Martin Bujard, der sich intensiv mit der Geburtenrate in Deutschland befasst und die Zahlen der letzten zwei Jahrzehnte bis auf die Stellen nach dem Komma kennt. Der stellvertretende Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sagt, die Debatte um gewollt kinderlose Frauen wie Julia Brandner ginge am eigentlichen Thema vorbei.

"Wenn jemand keine Kinder haben möchte, ist es eine freie Entscheidung. Dies sollte nicht stigmatisiert werden, es wird auch zunehmend akzeptiert, ein kinderloses Leben zu führen."

Der Punkt sei aber ein anderer: "Wir fragen ja empirisch nach den Kinderwünschen - und da zeigt sich, dass der Kinderwunsch zuletzt 2024 im Durchschnitt bei etwa 1,8 Kindern pro Frau und pro Mann liegt, das heißt, deutlich über der Geburtenrate von 1,35. Würden diese Kinderwünsche, die ja da sind, realisiert, hätten wir geringere demografische Probleme und langfristig viel mehr Wohlstand."

"Wir sehen gegenwärtig schon die Probleme der niedrigen Geburtenrate der 1980er und 1990er Jahre" - Martin BujardBild: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

"Fertility gap" heißt die Lücke zwischen gewünschter Kinderzahl und Geburtenrate, dass also viele Frauen am Ende vielleicht nur ein Kind statt der gewünschten zwei bekommen. Weil sie möglicherweise erst später eine stabile Partnerschaft finden, weil Kinder in der gesellschaftlichen Debatte immer häufiger als Problem statt als Bereicherung angesehen werden und weil die Politik mehr machen könnte, als sie momentan tut.

Hausaufgabe für Deutschland: Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern

Martin Bujard lobt zwar Deutschlands familienpolitische Anstrengungen in der Vergangenheit, wie den Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sowie das Elterngeld Anfang der 2000er Jahre. Das sei ein international beachteter Paradigmenwechsel, jahrzehntelang habe Deutschland bei der Geburtenrate unter den Schlusslichtern weltweit gelegen.

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Doch: "Seit 2013 haben wir zwar einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, aber diese ist nicht mehr so zuverlässig, weil Betreuung oft ausfällt. Es gibt einen Fachkräftemangel bei der Betreuung, und es fließt letztlich zu wenig Geld ins System. Wenn genug Geld da wäre, könnte man auch über höhere Löhne von Erziehern und Erzieherinnen sprechen."

Mehr Männer als Frauen zwischen 30 und 50 sind kinderlos

Deutschland ist gefordert, sich familienpolitisch wieder mehr anzustrengen, denn der Trend gibt Grund zur Sorge: 22 Prozent der Frauen und 36 Prozent der Männer zwischen 30 und 50 Jahren haben aktuell keine Kinder, so das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und die durchschnittliche Kinderzahl bei Männern in Deutschland lag laut Statistischem Bundesamt 2024 bei gerade einmal 1,24. 

Vor allem junge Akademikerinnen bleiben immer häufiger kinderlos. Der einzige Weg sei deshalb, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, sagt der stellvertretende Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.

"Das Worst-Case-Szenario ist, dass mit einer weiter sinkenden Geburtenrate 2030 langfristig noch gravierendere Probleme bei der Sozialversicherung haben werden. Dies würde sehr viel Wohlstand kosten: Beiträge für Sozialversicherungen müssten erhöht werden, Renten fielen niedriger aus, auch im Gesundheitssystem und in der Pflege müsste man weitere Abstriche machen."

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