Geburtenrate: Weniger Neugeborene in Deutschland
29. Oktober 2024Die Geburtenrate sinkt in Deutschland. Sie liegt nach Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) aktuell noch bei 1,35 Kindern je Frau, während es 2021 noch 1,58 Kinder je Frau waren. Dabei ist der Rückgang in Ostdeutschland stärker ausgeprägt als in den westlichen Bundesländern.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden von Januar bis einschließlich Juli 2024 in Deutschland rund 392.000 Kinder geboren. Das waren drei Prozent weniger als im gleichen Zeitraum des Jahres 2023. Damit verfestigt sich nach Angaben der Statistiker ein rückläufiger Trend, der bereits die Gesamtjahre 2022 und 2023 (693.000) prägte. Im Gesamtjahr 2021 wurden in Deutschland noch 795.500 Kinder geboren. Bildlich gesagt: Mehr als jedes achte Bett einer Neugeborenen-Station blieb im Jahr 2023 (im Vergleich zu 2021) leer.
Die Jahre mit an die 800.000 Neugeborenen hatten erst 2016 begonnen. Bis dahin hatten die Statistiker für Deutschland noch deutlich geringere Zahlen an Neugeborenen vermeldet und die Politik alarmiert. So waren es 2013 nur gut 682.000, 2015 dann über 737.000. In diesen Hochjahren zwischen 2016 und 2021 kamen auf 1000 Einwohner jeweils deutlich mehr als neun Neugeborene. Mittlerweile sind es nur noch 8,2 und damit noch weniger als vor zehn oder 15 Jahren.
Deutliche Schwankungen bei diesen Zahlen haben stets langfristige Veränderungen zur Folge. Das gilt zunächst für die Zahl der erforderlichen Plätze zur Kinderbetreuung und für die schulische Ausbildung. Längerfristig geht es um Arbeitskräfte und auch um die stabile Finanzierung der Rentenkassen. Und letztlich ist eine geringe Geburtenrate auch ein Grund für notwendige Zuwanderung.
Ost-West-Unterschied
Auf ein Detail macht das ifo Institut besonders aufmerksam: Die Geburtenzahlen in den ostdeutschen Bundesländern gehen noch rasanter zurück als in den westdeutschen Ländern. Bundesweit sank die Zahl der Neugeborenen von 2021 auf 2023 um knapp 13 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern betrug der Rückgang aber sogar 17,5 Prozent. Das passt zum statistisch belegbaren Trend, dass mehr junge Frauen als junge Männer für bessere berufliche oder private Perspektiven von Ost- nach Westdeutschland umziehen.
Dass die Gesamtzahl an Geburten zurückgeht, ist grundsätzlich erklärbar und letztlich keine Überraschung. Denn gesamtgesellschaftlich sinkt die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter. Aber das reicht nicht, um die Deutlichkeit des Trends zu erklären. Die Statistiken zeigen, dass der Rückgang der Neugeborenen-Zahl auch an der niedrigeren Geburtenrate pro Frau liegt.
"Das Gebärverhalten, ausgedrückt durch die Geburtenrate, hat sich in den vergangenen drei Jahren massiv verändert", so Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der ifo Niederlassung Dresden, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Ganz offenbar haben die Coronakrise, der Ausbruch des Krieges in der Ukraine und die nachfolgenden Einbußen beim Realeinkommen aufgrund hoher Inflation viele junge Familien dazu bewogen, mögliche Kinderwünsche erst einmal aufzuschieben." Die Gründe sind Vermutungen und nicht statistisch zu belegen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Ragnitz erläutert, in Deutschland sei eine Entscheidung für ein Kind letztlich eine Privatsache. Bei dieser Entscheidung sei eine Vielzahl von Faktoren von Bedeutung, maßgeblich die Abwägung von Kosten und Nutzen, auch die Frage des eigenen Lebensentwurfs. Unstrittig sei, dass ein Kind für eine Familie einen Kostenfaktor von rund 180.000 Euro bedeute. Deshalb stünden Paare oder Familien vor einer Entscheidung auf "sehr sehr lange Sicht". Die Politik habe die Aufgabe, die zugrundeliegende Kalkulation zu verändern, "indem man den Nutzen erhöht oder die Kosten verringert".
Dauerndes Streitthema
Dabei wird in Deutschland schon seit Jahrzehnten über die Frage der richtigen Maßnahmen gestritten. Meist geht es um eine Konkurrenz zwischen institutioneller Förderung, beispielsweise durch umfassende Betreuungsangebote und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und individueller Förderung durch höheres Kindergeld. Immer wieder gibt es – auch aus dem Bereich des Bundesfamilienministeriums - Berechnungen, wonach familienpolitische Leistungen den Steuerzahler bis zu 200 Milliarden Euro im Jahr kosten. Dazu zählen unter anderem Kindergeld und steuerliche Kinderfreibeträge und Investitionen im Bildungsbereich.
Vermutlich brauche es, sagt der ifo-Experte, auf jeden Fall ein grundlegendes gesellschaftliches Umdenken. Er nennt ein konkretes Beispiel: "Heutzutage gibt es Hotels, die werben damit, dass es bei ihnen keine Kinder gibt. Da steckt grundsätzlich ein Bild von störenden Kindern dahinter." Deshalb müsse sich die Gesellschaft insgesamt der Frage stellen, wie sie mit Kindern und mit Familien umgehe und was sie dafür materiell und ideell tun wolle.
Ganz gleich, ob die Politik durch konkrete familienpolitische Maßnahmen oder die gesamte Gesellschaft durch einen grundlegenden Stimmungswandel zu einem anderen Denken und anderen Zahlen beitrage, werde das, so Joachim Ragnitz, die Entwicklung nicht rasch verändern. "Beides könnte nur auf längere Sicht eine Rolle spielen, nicht kurzfristig. Egal, welche Schritte man geht, man wird nur sehr sehr langfristig Veränderungen erreichen können."