In Erinnerung an die Pogrome der Nazis warnen Politik und Kirchen vor wachsendem Zuspruch für antisemitisches Gedankengut. Außenminister Maas nannte es unerträglich, dass "Jude" wieder Schimpfwort auf Schulhöfen werde.
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Zum 80. Jahrestag der Pogrome der deutschen Nationalsozialisten gegen Juden sagte Bundesaußenminister Heiko Maas, einem Wiedererstarken von Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus dürfe kein Raum gegeben werden. "Denn erst sind es Worte, dann folgen die Taten." Populisten und Nationalisten wollten spalten, indem sie Vorurteile schürten, sagte der Außenminister. Hass spalte, hetzte auf und töte. Er forderte dazu auf, klar "auf der anderen Seite" zu stehen und für Toleranz, Respekt und Mitgefühl einzutreten.
Gedenkausstellung im Auswärtigen Amt
"Als im November 1938 die Synagogen brannten, war es bereits zu spät. Der Weg zur systematischen Vernichtung der Juden Europas war eingeschlagen." Nur fünf Jahre hätten damals "gereicht, um Anstand, Moral und Menschlichkeit aus dem deutschen Staatsapparat zu verdrängen", warnte Maas mit Blick auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler im Jahr 1933.
"Es ist schlicht unerträglich, wenn auf unseren Straßen wieder offen der Hitlergruß gezeigt wird" und "Jude" wieder "zum Schimpfwort auf unseren Schulhöfen wird", sagte Maas in einer Rede anlässlich einer Ausstellungseröffnung im Auswärtigen Amt in Berlin. Dort werden bis zum 28. November die Berichte ausländischer Diplomaten aus mehr als 20 Staaten über die antijüdischen Ausschreitungen aus der Nacht vom 9. auf den 10. November vor 80 Jahren gezeigt.
Kirchen fordern Widerstand gegen Antisemitismus
Auch die beiden großen Kirchen in Deutschland nehmen den Jahrestag der Novemberpogrome zum Anlass, um zum Widerstand gegen jede Form von Antisemitismus aufzurufen. "Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Juden in welcher Form auch immer angegriffen werden", sagte der Vorsitzende der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, in Würzburg bei einer Gedenkfeier des Zentralrates der Juden zur Pogromnacht. "Dass damals so viele - die meisten von ihnen waren Christen - weggeschaut oder tatenlos zugeschaut haben, erfüllt uns bis heute mit Scham", sagte Marx.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) warnte vor dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland und weltweit. Mit Blick auf den Anschlag auf eine Synagoge im US-amerikanischen Pittsburgh und Übergriffe auf Juden in Deutschland gab die EKD zu bedenken: "Antisemitismus ist kein Phänomen von gestern." Auch heute müsse allen Formen von Judenfeindschaft und Antisemitismus entschieden entgegen getreten werden.
Der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, sagte bei der Gedenkveranstaltung in Würzburg, die Frage, wie sicher jüdisches Leben in Deutschland ist, habe wieder an Aktualität gewonnen. Doch so beunruhigend manche Entwicklung auch sei, so müsse man die Unterschiede zur Nazi-Zeit deutlich benennen: "Damals handelte es sich um staatlich initiierte und staatlich gelenkte Gewaltakte gegen Juden." Und die breite Bevölkerung habe dem schweigend zugesehen. "Heute hingegen stellt sich der Staat schützend vor die Minderheiten", betonte Schuster.
Aktionswoche gegen Antisemitismus
In der Reichspogromnacht 1938 waren auf Geheiß der Nationalsozialisten zahlreiche Synagogen zerstört, jüdische Geschäfte verwüstet und Gewalttaten an deutschen Juden verübt worden. Protest der deutschen Gesellschaft gegen die Pogrome gab es so gut wie nicht. In ganz Deutschland finden zum 80. Jahrestag zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt.
In Berlin eröffnete am Vormittag der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, gemeinsam mit Israels Botschafter Jeremy Issacharoff die bundesweiten Aktionswochen gegen Antisemitismus. In den kommenden Wochen sind dazu mehr als 150 Veranstaltungen geplant.
qu/uh (afp, epd, kna)
Synagogen in Deutschland
Vor 1933 gab es etwa 2800 jüdische Gotteshäuser in Deutschland. Heute sind es rund 130 Synagogen und Gebetsräume, die von der wechselvollen Geschichte erzählen, aber auch von der lebendigen Gegenwart jüdischen Lebens.
Bild: picture-alliance/dpa/Avers
Hauptsynagoge Berlin
Die jüdische Gemeinde Berlin ist mit mehr als 11.000 Mitgliedern heute wieder die größte Gemeinde in Deutschland. In der Rykestraße liegt ihre Hauptsynagoge, ein Backsteingebäude im neo-romanischem Stil von 1903/04. Mit über 2000 Sitzplätzen gilt sie - neben der großen Synagoge in Budapest - heute als größte in Europa.
Bild: Thomas Klatt
Alte Synagoge Erfurt
Sie gilt heute als eines der ältesten erhaltenen jüdischen Gotteshäuser in Europa. Nur mit Glück überstand die um 1100 erbaute Alte Synagoge in Erfurt ein mittelalterliches Pogrom und mehrere Judenverfolgungen. Zu einem Lagerhaus umgebaut und später als Ballsaal genutzt, blieb sie bis Mitte der 1990er Jahre unerkannt. Dann wurde sie saniert und 2009 als Museum wiedereröffnet.
Bild: picture-alliance/dpa
Heiliger Sand Worms
Die ersten festen jüdischen Gemeinden in Deutschland bildeten sich an der rheinischen Nord-Süd-Straße zwischen Speyer, Mainz und Worms. Auf dem Gelände der Synagoge in Worms liegt heute der älteste erhaltene jüdische Friedhof Europas. Besonders sehenswert sind die Grabsteine mit mehr als 2000 erhaltenen Inschriften, teilweise aus dem 11. Jahrhundert.
Bild: DW/Maksim Nelioubin
Synagoge Köln
Köln war in der Weimarer Republik eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands. 1933 existierten im heutigen Kölner Stadtgebiet sieben Synagogen. 1938, in der Reichsprogromnacht, wurden alle Gebetshäuser zerstört. Nach dem Krieg wurde die Synagoge in der Roonstraße als einzige wieder aufgebaut. Heute ist sie wieder ein lebendiges Zentrum jüdischer Kultur in Deutschland.
Bild: picture-alliance/Arco Images/Joko
Neupfarrplatz Regensburg
Die erste jüdische Gemeinde in Bayern war Regensburg und zählte im Mittelalter zu den bedeutendsten in Europa. An die erste Synagoge erinnert heute dieses Kunstwerk aus weißem Beton, das ihren Grundriss nachzeichnet. Das Gotteshaus wurde bereits 1519 zerstört. Erst 1995 entdeckte man bei Grabungen alte Reste und ließ ein unterirdisches Informationszentrum einrichten.
Bild: picture-alliance/dpa
Synagoge Bayreuth
Eine ganz andere Geschichte hat die Synagoge in Bayreuth. Das Gebäude diente ab 1715 zunächst als Opernhaus und wurde erst später von der jüdischen Gemeinde als Synagoge umfunktioniert. Sie ist in Deutschland die einzige erhaltene Synagoge im Barockstil, die heute noch religiösen Zwecken dient.
Bild: picture-alliance/dpa
Synagoge Ulm
Die jüdische Gemeinde in Ulm hat seit 2012 wieder eine Synagoge. Zur Einweihung war auch der damalige Bundespräsident Gauck gekommen. Er sprach "von einem Freudentag für alle Menschen guten Willens". Das nach Jerusalem ausgerichtete Gotteshaus soll zentrale Anlaufstelle für Juden im Osten Württembergs und im bayerischen Teil Schwabens sein.
Bild: dapd
Große Synagoge Augsburg
Sie ist die einzige Synagoge in Bayern, die den Nationalsozialismus nahezu unbeschadet überstanden hat. 1917 eröffnet, gilt das Jugendstilgebäude als eines der schönsten Gebetshäuser Europas. Blickfang ist die 29 Meter hohe Kuppel, die mit orientalisch anmutenden Elementen verziert ist. Zur Synagoge gehört das Jüdische Kulturmuseum, das die Geschichte der Juden in Augsburg dokumentiert.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Puchner
Synagoge Celle
Im Fürstentum Lüneburg in Niedersachsen erhielten die Juden erst 1737 die Erlaubnis, Synagogen zu bauen. Aus jener Zeit stammt der nach außen schlichte Fachwerkbau in Celle. Der Innenraum im Stil des prunkvollen Spätbarocks fiel - wie viele andere Synagogen in Deutschland - der Pogromnacht am 9. November 1938 zum Opfer. Seit 1974 wird das Haus wieder als jüdisches Gotteshaus genutzt.
Bild: CC0 1.0
Westend-Synagoge Frankfurt am Main
Mit dem 20. Jahrhundert begann für die Juden in Deutschland eine Zeit des Aufschwungs, in der sich auch eine liberale Strömung innerhalb des Judentums entwickelte. Aus dieser Epoche stammt dieser Bau im ägyptisch-assyrischen Stil. Weder die Pogromnacht noch der Zweite Weltkrieg konnten sie gänzlich zerstören. Bis heute steht sie damit auch für die Glanzzeiten deutsch-jüdischen Lebens.
Bild: CC BY-SA 3.0
Alte Synagoge Essen
Nur wenige Jahre nach der Frankfurter Synagoge entstand 1911 bis 1913 in Essen die Alte Synagoge. Sie zählte zu den größten und bedeutendsten jüdischen Bauwerken Deutschlands. 1938 von den Nazis stark beschädigt, diente sie nach dem Krieg als Haus des Industriedesigns, dann als Gedenkstätte und Dokumentationsforum. Nach umfangreichen Umbauarbeiten beherbergt sie jetzt das Haus jüdischer Kultur.
Bild: picture-alliance/dpa
Neue Synagoge Dresden
In vielen Städten jedoch wurden die Synagogen 1938 unwiderruflich zerstört, so auch der Semperbau in Dresden in unmittelbarer Nähe zur berühmten Silhouette. 2001 konnte am Originalstandort dieser preisgekrönte Neubau eingeweiht werden. Die leicht gedrehte Form des Würfels gewährleistet die vorgeschriebene Ausrichtung der Toraschreinwand nach Jerusalem.
Bild: picture-alliance/dpa
Hauptsynagoge München
Auch in München bekräftigte man architektonisch ein neues Kapitel in der deutsch-jüdischen Geschichte. 2006 eröffnete in der Innenstadt das Gemeindezentrum mit der neuen Hauptsynagoge Ohel Jakob sowie ein Kultur- und Gemeindehaus und das neue Jüdische Museum, dessen Träger die Stadt ist. Mit 9500 Mitgliedern gehört die jüdische Gemeinde in München heute zu den größten in Deutschland.