"Ich möchte mich verabschieden"
27. Januar 2015 Er will sich verabschieden, ein letztes Mal verabschieden. Von seinen Schwestern, die in Auschwitz blieben, dem Vater, dessen Leichnam er einst selbst aus der Baracke zerren musste. Mordechai Ronen ist mit seinen 82 Jahren aus Toronto nach Auschwitz gekommen, in diese einstige Hölle, die er selbst überlebte. Der Sohn und die Schwiegertochter, die Enkelin, sie begleiten ihn. Und halten ihn ruhig, wenn er immer wieder zu weinen beginnt.
Mordechai Ronen sitzt nun im gewaltigen Zelt, das zum 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vor dem Eingang steht. Es schützt vor der Kälte. Im Mittelpunkt, mit einer eigenen Ruhe und Ausstrahlung, rund 300 Überlebende, vielleicht alt und schwach, aber stark an diesem Tag. Hinter jedem von ihnen stehen Familien und Freunde, die in die Öfen gingen. Hinter allen stehen gut 1,1 Millionen Menschen. Getötet, vernichtet in der Todesmaschinerie von Auschwitz. Die Überlebenden begleitet die Erinnerung. So wie die Jüdin, die die Reise aus den USA auf sich nahm - und dann doch nicht die Kraft hatte für den Weg vom Hotel in Krakau nach Auschwitz, in ihre Vergangenheit.
Gäste aus aller Welt
Auch Staatschefs und Regierungsvertreter aus rund 40 Ländern haben in dem Zelt Platz genommen. Bundespräsident Joachim Gauck, der am Morgen im Bundestag Auschwitz das "Menschheitsverbrechen" nannte, ist da. Auch Frankreichs Präsident François Hollande, viele Staatsoberhäupter aus den Staaten Ost- und Mitteleuropas, die so schreckliche Verluste erlitten durch Nazi-Deutschland. Zahlreiche Außenminister sind gekommen, auch die Königspaare aus Belgien und den Niederlanden, Thronfolger aus Skandinavien. Russlands Präsident Wladimir Putin ist - anders als 2005 - nicht da. Die große Politik.... Nach kleinlichem Gerangel im Vorfeld vertritt nun der Chef des russischen Präsidialamtes, Sergei Ivanow, das Land, dessen Soldaten der Roten Armee einst dem Grauen von Auschwitz ein Ende setzten.
Auschwitz - eine Stätte zum Verstummen, kein Ort für große Worte. Vor zehn Jahren sprachen Staatspräsidenten reihenweise bei der Gedenkfeier. Würdevolle Reden, aber zu viele Worte. An diesem Dienstag treten drei Überlebende ans Mikrofon. Sie sprechen nicht einfach, sie vergegenwärtigen.
"Nie ein Kuss"
Da ist Halina Birenbaum. Heute ist sie 85 Jahre alt. Mit 13 kam sie für zwei Jahre in die Hölle von Auschwitz, überlebte das Warschauer Ghetto, Majdanek, Ravensbrück, auch Neustadt-Glewe, ein Außenlager von Ravensbrück zur Sklavenarbeit in den Dornier-Flugzeugwerken. Zuviel für ein Leben. Jetzt steht die kleine Frau vor den 3000 und sagt über alle, die sie erinnert: "Ich lasse sie nicht sterben, niemals." Da erzählt sie von ihrer Traurigkeit im Lager, vielleicht nie "einen echten, verliebten Kuss" zu erleben. Und von ihrem Zorn bei jeder Leugnung der Shoa. "Es ist alles frisch in der Erinnerung", sagt sie. Als sie abtritt, erheben sich die offiziellen Gäste zum Applaus. Und Halina Birenbaum stellt sich vor die anderen Häftlinge und klatscht ihnen zu.
Dann Kazimierz Albin (92) aus Krakau, der an das Leid der polnischen Bevölkerung und des Widerstands erinnerte und seine Rede mit der schlichten Bitte schloss, sich zum Gedenken an die Opfer zu erheben. Gut drei Jahre war er in Auschwitz. Und Roman Kent, vor 85 Jahren in Lodz geboren, nun aus New York angereist. Wie lang er in Auschwitz gewesen sei? "Eine Minute war in Auschwitz ein Tag, ein Tag ein Jahr, ein Monat eine Ewigkeit. Wie viele Ewigkeiten kann ein Mensch in einem einzigen Leben haben..." Er höre heute noch die Schreie der Kinder, die die Wärter verzweifelten Frauen entrissen. Und dann noch so ein Satz, den man bei vielen Häftlingen spüren kann, bei ihrer Absage an Judenhass und Rassismus: "Wir wollen nicht, dass unsere Vergangenheit die Zukunft unserer Kinder ist." Da kommt der Beifall zu früh. "Ich wollte es zwei mal sagen", sagt der 85-Jährige und kämpft mit den Tränen. Und wiederholt mit einem Wort des Gedenkens diesen großen, ernsten Satz.
Die Zeugnisse der Überlebenden, die freundlichen Gesichter der Alten, aus denen die Erfahrung des Grauens spricht, prägen diese ernste, würdige Feier. Mehr als der elfminütige Film Steven Spielbergs, der das Unfassbare zu fassen, zu vermitteln sucht. Spielberg wirkt gerührt wie mehrfach während der Feier. Und Mordechai Ronen - er geht hin und dankt dem Hollywood-Mann.
"Nie mehr!"
Polens Präsident Komorowski hatte mit einer kurzen Rede die Feier eröffnet. Einen politischen Schlenker ließ er sich vor seinem Nein zu Hass, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht nehmen: Es seien, sagt er, Soldaten der "ukrainischen Front" der Roten Armee gewesen, die Auschwitz befreit hätten.
Bleiben wird eher die Rede von Ronald Lauder, dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Der wuchtige, groß gewachsene Amerikaner, der am Vortag weinende Überlebende unter dem Schild "Arbeit macht frei" geradezu zärtlich gedrückt hatte, wird nun sehr entschieden. Er spricht vom Pariser Terror, von der Gewalt im Mittleren Osten, er fordert die Regierungen, gerade die Regierungen in Europa, zu härterem Vorgehen gegen Hass, gegen Antisemitismus auf. "Alle Länder müssen Hass als ein Verbrechen bestrafen", mahnt er. "Lasst nicht zu, dass das hier noch einmal passiert." Und auch er wiederholt diesen Satz, der ihm so wichtig geworden ist in den vergangenen Wochen, ein zweites Mal.
Der Klagegesang der Rabbiner, die hebräisch gesungene Totenklage mit der Nennung der Lager hat hier seinen besonderen Platz. Da stehen Überlebende gerührt, umschlungen, von Tränen übermannt. Aber würdig. Es ist das, was sie, was Menschen wie Mordechai Ronen ihren Lieben geben können. Dann geht es für einzelne Delegationen hinaus aus dem Zelt zum Gedenken an der "Rampe". Der Wind treibt den Schnee über die weite Fläche. In der Dunkelheit flackern Kerzen. In der Nacht von Auschwitz, die immer bleibt.