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Politik

"Gefährliche Enthemmung"

Christian Wolf
6. Juni 2016

Durch die Äußerungen von AfD-Politikern wird über Rassismus debattiert. Dabei stellt sich die Frage, ob Diskriminierung wieder salonfähig ist. Rassismusforscherin Bilgin Ayata gibt im DW-Interview Antworten.

Deutschland Bilgin Ayata
Bilgin Ayata forscht an der Uni Basel zum Thema RassismusBild: picture-alliance/dpa/K. Schindler

Deutsche Welle: In diesen Tagen wird wieder sehr viel über Rassismus diskutiert. Doch was ist Rassismus eigentlich?

Bilgin Ayata: Einfach gesagt steht Rassismus für eine Ideologie und Praxis, die von einer Ungleichwertigkeit verschiedener Menschengruppen ausgeht - sei es aufgrund ihrer Herkunft, Abstammung, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Religion. Dazu gehören negative Fremdzuschreibungen oder wenn biologische Merkmale mit sozialem Verhalten in Verbindung gebracht werden. Während man das Fremde als bedrohlich oder negativ abwertet, wird das Eigene in ein positives oder sogar überlegenes Bild gerückt. Dabei ist es unerheblich, ob die diskriminierende Handlung tatsächlich Rassismus zum Ziel hat oder ihn nur befördert. Es geht also nicht nur um absichtsvolles Handeln.

Und wie rassistisch ist demnach Deutschland?

Eigentlich wird immer nur dann von Rassismus gesprochen, wenn ein sehr plumper biologischer Rassismus deutlich wird - so wie bei der Debatte um die Äußerungen von Thilo Sarrazin (Autor von "Deutschland schafft sich ab", d. R.) oder eben jetzt wieder bei der AfD. Wenn man aber Rassismus immer nur dann wahrnimmt, wenn Gewalt wie etwa durch den NSU angewendet wird oder es sich um biologischen Rassismus handelt, werden all die Formen des alltäglichen Rassismus übersehen, von denen Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind. Da bekommt jemand einen Job oder eine Wohnung nicht, nur weil er oder sie einen ausländisch klingenden Namen hat. Solche Formen der Diskriminierung gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Ist Deutschland denn rassistischer geworden?

Noch gibt es keinen Datensatz, der rassistische Einstellungen oder rassistische Diskriminierung systematisch erfasst. Wir sprechen ja gar nicht über Rassismus, sondern verwenden andere Begriffe. So gibt es in der Polizeistatistik keinen Bereich für rassistische Gewalttaten, sondern die Kategorie politisch motivierte Kriminalität rechts. Auch in der Wissenschaft verwenden Studien meistens die Begriffe 'Fremdenfeindlichkeit' oder 'rechtsextreme Einstellungen' - und eben nicht rassistische Einstellungen. Wir umschreiben das Problem immer nur, aber nennen es nicht beim Namen.

Woher kommt dieser vorsichtige Umgang?

In Deutschland wird mit Rassismus meistens der biologistische Rassismus des Nationalsozialismus assoziiert, daher herrscht eine starke Abwehrhaltung gegen das Wort 'Rassismus' vor. Stattdessen werden weniger historisch vorbelastete Begriffe wie 'Fremdenfeindlichkeit', 'Ausländerfeindlichkeit' oder 'Xenophobie' verwendet. Ein weiteres Problem ist, dass sich Deutschland nie wirklich mit seiner Kolonialgeschichte auseinandergesetzt hat, in der eine rassistische Ideologie und Praxis ausgebaut wurde. Das fehlende Bewusstsein für die gewaltvolle Kolonialgeschichte ist ein Spiegelbild der mangelnden Auseinandersetzung mit dem Rassismus in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.

AfD-Mann Alexander Gauland hat mit seinen Äußerungen für Wirbel gesorgtBild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Derzeit wird aber wieder über Rassismus gesprochen - auch und vor allem wegen der AfD. Welchen Einfluss haben etwa die Aussagen von Alexander Gauland oder Björn Höcke?

Es findet eine gefährliche Enthemmung in der öffentlichen Diskussion statt. Die Grenze dessen, was gesagt werden darf und was nicht, wird bewusst verschoben. Dinge werden geäußert, die sehr offen rassistisch sind. Indem dann aber noch extremere Aussagen gemacht werden, wirken die vorherigen auf einmal normal. Ich warne aber davor, das Problem des Rassismus allein auf die AfD zu reduzieren. Politik und Gesellschaft tragen die Verantwortung, denn sie haben das Problem über Jahre geleugnet. Auch die Medien tragen eine Verantwortung, wenn sie unkritisch rassistische Formulierungen übernehmen oder sogar selber schaffen wie etwa die 'Dönermorde'. In der Politik sind bereits seit Jahrzehnten Einwanderung und Flüchtlinge ein beliebtes Wahlkampfthema, in der die Migranten instrumentalisiert und stigmatisiert werden. Da darf man sich nicht wundern, wenn heute in plumpen Formen Dinge gesagt werden, für die der Nährboden schon früher geschaffen wurde.

Wie ist es überhaupt möglich, Rassismus zu verhindern oder einzudämmen?

Man kann sehr viel tun. Das Problem ist nur, dass man sich bisher nicht wirklich angestrengt hat. Der erste wichtige Schritt wäre es, eine offensive und ehrliche Diskussion über Rassismus in diesem Land zu führen - in der Politik, in den Medien, in den Schulen, einfach in der ganzen Gesellschaft. Wenn die Bundeskanzlerin den Aussagen von Herrn Gauland widerspricht, ist das zwar richtig, aber dann müssen auch Taten folgen. Die Antirassismus-Kommission der UN hat im Mai 2015 festgestellt, dass Deutschland seinen Verpflichtungen hinsichtlich Rassismus nicht genügend nachkommt und großer Handlungsbedarf besteht. Es gibt zwar einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus, dieser wird aber nur in sehr geringem Umfang umgesetzt. Rassismus ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles Problem. Man muss über die Institutionen und Strukturen gehen, die rassistische Einstellungen und Diskriminierung tolerieren oder ignorieren. Sehr wichtig wäre auch ein zentrales, von Bundesmitteln gefördertes Institut für die Erforschung und Bekämpfung von Rassismus, wie es auch vom NSU-Untersuchungsausschuss empfohlen wurde.

Bilgin Ayata ist Assistenzprofessorin für Politische Soziologie an der Universität Basel. Geboren wurde sie in Ulm. An der York Universität in Kanada erwarb sie ihren Master in Political Science und wurde 2011 an der Johns Hopkins Universität in den USA promoviert.

Die Fragen stellte Christian Wolf.

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