1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Geheimdienst-Netzwerke und russischer Einfluss in Bulgarien

Christopher Nehring Sofia
3. November 2022

In Bulgarien hatte der Versuch, die Vergangenheit der kommunistischen Staatsicherheit aufzuarbeiten, kaum Konsequenzen. Die alten Seilschaften haben noch immer viel Macht. Sie dienen russischen Interessen.

Bulgarien Stasi-Archiv
Die Akten der Staatssicherheit sind verstaubt - die alten Seilschaften aber sind noch immer aktivBild: BGNES

Auch 30 Jahre nach dem Untergang des Kommunismus ist die Macht der früher allgegenwärtigen Staatssicherheit (DS - Darshawna sigurnost) in Bulgarien immer noch ungebrochen. Ihre früheren Mitarbeiter haben einflussreiche Positionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft inne und mischen fleißig mit in der Politik des EU-Landes. Und das, obwohl die Regierung im Zuge des EU-Beitritts vor 15 Jahren die Archive der Staatssicherheit geöffnet und die Überprüfung der Kandidaten für alle gewählten und ernannten Ämter vorgeschrieben hat.

Ekaterina Bontschewa, seit 2007 vom Parlament gewähltes Mitglied der für Archiv und Überprüfungen zuständigen KOMDOS-Kommission, sagt der DW: "Wir haben ein Archiv von 16 Aktenkilometern geschaffen, das der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Wir haben den Nachweis geliefert, dass die gesamte Staatssicherheit eine brutale politische Polizei war. Und wir haben dafür gesorgt, dass die Hinterzimmerpolitik und die Erpressungen mit den geheimen Akten aufhören."

16 Kilometer Aktenbestände dokumentieren die Tätigkeit der bulgarischen StaatssicherheitBild: BGNES

Trotzdem, so Bontschewa sichtlich frustriert, habe sich wenig geändert. Noch immer beeinflussten die ehemaligen Mitarbeiter des Geheimdienstes Politik und Gesellschaft in Bulgarien - mit russischer Hilfe. "Die haben nie der nationalen Sicherheit Bulgariens gedient, sondern nur dem kommunistischen Regime und dem KGB", sagt Bontschewa. In der Tat hatte im Jahr 1972 der damalige Innenminister Dimitar Stojanow die bulgarische DS stolz als "Regionalfiliale des KGB" bezeichnet. Die noch immer tätigen Netzwerke der ehemaligen Agenten bedeuten für Bulgarien deshalb auch heute noch ein Loyalitätsproblem.

Misstrauen gegenüber Geheimdiensten

Deutlich wurde dies zuletzt beim russischen Angriff auf die Ukraine. Die Analysen und Vorhersagen der Geheimdienste seien damals viel zu sehr auf Russland ausgerichtet gewesen, heißt es aus gut unterrichteten Regierungskreisen in Sofia, die gegenüber der DW auf Anonymität bestehen. Dadurch habe man das Potenzial des russischen Militärs vollkommen überschätzt. Den ukrainischen Verteidigungswillen und die Fähigkeiten der ukrainischen Armee habe man dagegen nicht berücksichtigt und sei so zu falschen Einschätzungen gekommen. "Erst meldeten sie, es werde keinen Krieg geben, dann meldeten sie, dass alles in zwei Tagen vorbei sein würde und sich Bulgarien am besten neutral verhalten solle", erklären Eingeweihte. Im Februar 2022 forderten Abgeordnete der damaligen Regierungsfraktionen deshalb Untersuchungen, ob die Dienste die Regierung absichtlich getäuscht hätten.

Hristo Iwanow, Ko-Vorsitzender des Parteienbündnisses Demokratisches BulgarienBild: Spasiyana Sergieva/BGNES

"Sicherheitsdienste sollten das Immunsystem eines Staates sein. Doch in unseren Diensten ist überall der verdeckte Einfluss Russlands zu spüren", meint dazu Hristo Iwanow, Parlamentsabgeordneter und Ko-Vorsitzender des Parteienbündnisses Demokratisches Bulgarien (DB). Das mag auch ein Grund dafür sein, dass die Geheimdienste die gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung ihres Personals durch KOMDOS unterlaufen. Für die wenigen Mitarbeiter, für die sie Daten an KOMDOS übermittelten, zeigte sich: Rund die Hälfte hatte bereits für die kommunistische Staatssicherheit spioniert, oft mit Spezialausbildung in Moskau.

Spione und Generäle

So wie Iwan Iliew, der einen russischen Spionagering geleitet hatte, der erst im März 2021 enttarnt wurde. Er hatte seit den 1980er-Jahren für den damaligen sowjetischen, heute russischen Militärgeheimdienst GRU gearbeitet, der ihn auch ausgebildet hatte. Videoaufnahmen und abgehörte Gespräche belegen, dass er jahrelang zusammen mit anderen Mitarbeitern des Geheimdienstes, des Verteidigungsministeriums und des Parlaments streng geheime Unterlagen mit NATO-Bezug an seine Führungsoffiziere in der russischen Botschaft verkauft hatte. Im März 2022 musste Iliew aus der Haft entlassen werden, nachdem das Gericht den Fall wegen formeller Fehler an die Staatsanwaltschaft zurück überwiesen hatte. Die von der Staatsanwaltschaft im Jahr zuvor veröffentlichten Beweise - Videoaufnahmen und Telefonmitschnitte - blieben jedoch bislang unwidersprochen.

Oder wie Walentin Zankow. Der General der Reserve wurde im März 2022, nur wenige Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, verhaftet. Der Vorwurf: Spionage für Russland. Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit wurde er nicht inhaftiert, sondern unter Hausarrest gestellt. Seit 1982 hatte Zankow im Aufklärungsdienst des Generalstabs gearbeitet und war ebenfalls in Moskau ausgebildet worden. Seiner Karriere im postkommunistischen Bulgarien tat dies keinen Abbruch. Er stieg bis zum Abteilungsleiter im Verteidigungsministerium auf und wurde sogar Militärattaché in London und Washington. Zankow soll, so die Anklage, dem politischen Sekretär der russischen Botschaft in Sofia geheime Unterlagen übergeben haben. Aus seinen Sympathien für Russland machte "Waljo der Spion", wie Zankow hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, ohnehin keinen Hehl. Er kritisierte nicht nur die Öffnung der kommunistischen Archive, sondern warnte auch vor angeblichen Angriffsvorbereitungen der NATO gegen Russland. 

Das Misstrauen gegenüber der Armee und den Sicherheitsdiensten sitzt daher tief in der bulgarischen Gesellschaft und Politik. "Der Grund dafür sind fehlende Reformen und die ausgebliebene Entfernung belasteter Mitarbeiter", urteilt Hristo Iwanow. Die alten Kader hätten dadurch die Möglichkeit erhalten, ihr Denken und ihre Mentalität an die nächste Generation weiterzugeben.

Nationalismus und Außenpolitik

Auch in der bulgarischen Außenpolitik sind alte Kader der bulgarischen Staatssicherheit seit Jahrzehnten tätig und bieten ein Einfallstor für russischen Einfluss. Noch im Dezember 2021 wollte zum Beispiel die damalige Außenministerin Teodora Gentschowska vier ehemalige DS-Mitarbeiter in ihren Stab holen. Der damalige Reform-Premier Kiril Petkow verhinderte dies jedoch.

Bereits 2010 kam eine Überprüfung der außenpolitischen Eliten durch die KOMDOS-Kommission zu einem schockierenden Ergebnis: 201 von 593 hochrangigen Beamten sowie 205 von 467 Botschaftern hatten früher für den kommunistischen Geheimdienst gearbeitet.

Akten der bulgarischen Staatssicherheit sind seit 15 Jahren für die Öffentlichkeit zugänglichBild: BGNES

Wie diese Netzwerke die bulgarische Außenpolitik beeinflussen und dabei russische Interessen fördern, zeigt der Geschichts- und Identitätsstreit mit Nordmazedonien. Hier sind es nicht nur alte DS-Netzwerke im Außenministerium und im Beraterkreis von Präsident Rumen Radew, die hinter der bulgarischen Blockade des nordmazedonischen EU-Beitritts stehen. Auch die bulgarischen nationalistischen Parteien, die den Konflikt ständig anheizen, sind "voll von alten Kadern der Staatssicherheit und bedienen im Streit mit Nordmazedonien strategische Interessen Russlands auf dem Balkan", so Ekaterina Bontschewa.

Ekaterina Bontschewa kämpft gegen den andauernden Einfluss der alten Staatssicherheits-NetzwerkeBild: BGNES

Ein Beispiel ist der ehemalige Vize-Premier und Verteidigungsminister, der bulgarische Nationalist Krasimir Karakatschanow, der in den 1980er-Jahren vom KGB als Agent "Iwan" geführt wurde. Nachdem seine VMRO-Partei in der Bedeutungslosigkeit verschwunden war, trat die Partei "Wiedergeburt" an ihre Stelle und erreichte bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2022 zehn Prozent. Auch sie ist aggressiv-nationalistisch, auch sie hat ehemalige Staatssicherheits-Mitarbeiter in ihren Reihen und ist sowohl im Nordmazedonien-Streit als auch im Ukraine-Krieg offen pro-russisch.

"Es braucht einen Mentalitätswandel"

Wenig überraschend, dass es außer der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) vor allem die nationalistischen Kräfte sind, die immer wieder für ein Ende der Überprüfung alter Stasi-Mitarbeiter und eine Schließung der kommunistischen Archive eintreten. "Ich bin kein Optimist, was das Thema der Aufarbeitung angeht", sagt Hristo Iwanow. "In der aktuellen politischen Dauerkrise sind Regierungskonstellationen, die das Thema wirklich angehen wollen, kaum vorstellbar."

Vorschläge, die eine Überprüfung auf Zugehörigkeit zu den alten kommunistischen Geheimdiensten zum verpflichtenden Bestandteil einer umfassenden Loyalitäts- und Sicherheitsüberprüfung machen und die KOMDOS-Kommission in ein Institut für Nationales Gedenken umwandeln wollen, verhallen seit Jahren ungehört. Die Abgeordnete Ekaterina Bontschewa jedoch beharrt auf der Bedeutung der KOMDOS-Kommission und ihrer Aufklärungsarbeit: "Wir haben eine stabile Institution aufgebaut und der Öffentlichkeit gezeigt, wer Verbindungen zur DS hatte. Diese Offenlegung muss weitergehen, es braucht einen Mentalitätswechsel in der politischen Elite!"

 

Anm. der Red.: Der Text wurde am 8.11. um zwei Präzisierungen ergänzt: Ilja Iliev wurde im März 2022 aus der Haft entlassen. Walentin Zankow wurde unter Hausarrest gestellt.