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Politik

"Gefahr, dass sich geheime Tötungen normalisieren"

Christopher Nehring
17. Januar 2020

Eine beängstigende Welle geheimdienstlicher Tötungen hat Europa erreicht, schreibt der Historiker und Geheimdienst-Experte Christopher Nehring. Das liegt auch an der Auflösung der alten internationalen Ordnung.

Symbolbild | Geheimdienst
Bild: imago/Steinach

Am 3. Januar 2020 töteten die USA den iranischen General Ghassem Soleimani durch einen Drohnenangriff, am 23. August 2019 tötete mutmaßlich der russische Geheimdienst den Exil-Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili in Berlin. Und am 2. Oktober 2018 tötete der saudi-arabische Geheimdienst den Journalisten Jamal Khashoggi in Istanbul. Diese Reihe der Morde, Anschläge und Entführungen ließe sich problemlos fortsetzen - auch in Deutschland.          

Eine beängstigende Welle geheimdienstlicher Tötungen hat Europa erreicht und es besteht wenig Aussicht auf Besserung. "Die nahe Zukunft wird eher mehr als weniger Tötungen mit geheimdienstlichem Hintergrund sehen", prognostizierte der ehemalige Präsident des deutschen Auslandsnachrichtendienstes BND, Gerhard Schindler, bei einer Diskussion im Deutschen Spionagemuseum.

Der Ton wird immer rauer

Ein Grund dafür ist die Auflösung der alten internationalen Ordnung. Die Großmächte USA, Russland und China konkurrieren mit aufstrebenden Regionalmächten wie Iran oder Saudi-Arabien. Und der Ton wird immer rauer, die Mittel immer brachialer. "Bestehende Mechanismen, um Konflikte friedlich zu lösen, versagen immer häufiger, und es besteht die reale Gefahr, dass sich geheime Tötungen normalisieren", warnt der Bundestagsabgeordnete Patrick Sensburg (CDU).

Dabei ist auch klar: Gezielte Tötungen werden schon lange durch Staaten angewandt. Russland, Israel oder die USA griffen in den letzten 30 Jahren regelmäßig zu diesem Mittel. Doch in Europa blieb es nach dem Ende des Kalten Krieges lange ruhig. Diese Zeit scheint vorbei.

Geheime Tötungen und Anschläge haben verschiedene Hintergründe: Operationen wie die der USA gegen den iranischen General Soleimani oder Aktionen der israelischen Geheimdienste gegen Hamas und Hisbollah sollen militärische Gegner treffen. Das Ziel dabei ist vor allem, zukünftige Angriffe zu verhindern, ohne einen Krieg zu wagen.

Oft sterben auch Unbeteiligte

Eine ganz andere Art der Tötungen sind Anschläge aus Rache oder Vergeltung. Dazu zählen zum Beispiel der Mord an Khangoshvili oder jener an Khashoggi, der Anschlag auf Sergej Skripal oder auch die israelischen Mordanschläge auf NS-Kriegsverbrecher. Hier sollen vergangene Handlungen bestraft, Kritiker zum Schweigen gebracht und gleichzeitig symbolische Warnungen in die Welt gesandt werden. 

Jamal Khashoggi - "zum Schweigen gebracht"Bild: Getty Images/C. McGrath

Wer also läuft Gefahr, Opfer solcher Anschläge zu werden? Tatsächlich trifft das nur auf einen kleinen Personenkreis zu: Militärische Feinde zählen ebenso dazu wie politische Dissidenten und Oppositionelle oder Geheimdienst-Überläufer.

Der Kampf gegen den Terrorismus seit den 1970er Jahren verwischt diese Grenzen jedoch zunehmend. Immer kleinere, vernetzte und anonyme Gruppen können Anschläge verüben - und werden ihrerseits auch durch gezielte Tötungen ins Visier genommen. Die Anschläge der israelischen Geheimdienste gegen die Führung von Hamas und Hisbollah sind dafür nur ein Beispiel.

Ein besonderes Problem dabei: "Gezielte Tötung" klingt präzise, tatsächlich sterben aber nicht nur "Zielpersonen", sondern auch Unbeteiligte. Ein englisches Ehepaar fand durch Zufall das Nervengift, das den russischen Agenten Sergej Skripal umbringen sollte - und starb. In Norwegen verwechselte der israelische Geheimdienst einen Islamisten mit einem harmlosen Passanten - und tötete den Falschen. General Soleimani war nicht der einzige Tote des Drohnenangriffs - es starben auch Personen, die sich am Ort des Geschehens aufhielten. Die Gefahr von Kollateralschäden bei Tötungen ist nie auszuschließen.

Vorboten ungemütlicher Zeiten

Und die Moral von der Geschichte? In Staaten wie Deutschland, in denen die Todesstrafe verboten ist, ist das moralische Entsetzen über Tötungsoperationen besonders groß. Auch die Vereinten Nationen verurteilen Tötungsoperationen in schöner Regelmäßigkeit. So auch bei Soleimani oder Khashoggi. Die USA, Israel oder Russland vertreten jedoch andere Rechtsauffassungen, die sie zur Abwehr von Terrorismus und Bedrohungen durch Tötungen im Ausland ermächtigen. Zumal sich genau diese Länder permanent irgendwo auf der Welt in einem militärischen Konflikt befinden, der ihre Sicherheit gefährdet. Eine Lösung dieses Widerspruchs scheint heute ferner denn je.

Christopher NehringBild: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de

Noch ist die Lage in Deutschland relativ ruhig. Die meisten "gezielten Tötungen" finden in den großen Krisenregionen der Welt, im Nahen Osten, Afghanistan oder der Ukraine statt. Doch Globalisierung, Migration und der neue westlich-russische Konflikt rücken sie immer näher an Deutschland heran. Die Tötung Khangoshvilis 2019 oder die Entführung des vietnamesischen Funktionärs Trinh Thanh 2017 in Berlin sind Vorboten ungemütlicher Zeiten.

Der Historiker Christopher Nehring hat zu einem Thema der Geheimdienstgeschichte promoviert und ist wissenschaftlicher Leiter im Deutschen Spionagemuseum Berlin. 2019 erschien sein neues Buch "Die 77 größten Spionage-Mythen".

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