1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gefangenenaustausch: Druckmittel gegen Deutschland

Olga Tikhomirova
9. August 2024

Investigativjournalist Christo Grozev war an der Vorbereitung des Gefangenenaustausches zwischen Russland und dem Westen am 1. August beteiligt. Im DW-Interview erzählt er von den Schwierigkeiten bei den Verhandlungen.

Gefangenenaustausch: Bundeskanzler Olaf Scholz steht vor dem Flugzeug mit den ausgetauschten politischen Gefangenen aus Russland
Bundeskanzler Olaf Scholz steht vor dem Flugzeug mit den ausgetauschten politischen Gefangenen aus Russland im Flughafen Köln/BonnBild: Marvin Ibo Güngör/Bundesregierung/Getty Images

Es war der größte Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit dem Kalten Krieg. Im Podcast von DW Russisch "DW Novosti Show" erzählt Investigativjournalist Christo Grozev, wie die Liste der Ausgetauschten entstanden ist und welche Rolle der in Belarus zur Todesstrafe verurteilte Deutsche Rico Krieger beim Austausch gespielt hat.

DW: Allen ist klar, dass Wadim Krassikow die zentrale Figur im jüngsten Gefangenenaustausch zwischen dem Westen und Moskau war. Warum hat sich Krassikow als eine Schwachstelle für Putin erwiesen?

Christo Grozev: Unsere Recherchen 2019-2021 bei [den Investigativplattformen] Bellingcat und The Insider ergaben, dass es sich bei Krassikow um eine Schlüsselfigur innerhalb des russischen Geheimdienstes FSB handelt. Er ist, wie der Kreml inzwischen zugegeben hat, ein Mitarbeiter und Offizier des FSB und stand auch Putins Umfeld sehr nahe. Das haben wir damit bewiesen, dass selbst auf Fotos und Videos von Krassikows Hochzeit, die wir erhalten haben, viele Mitarbeiter des Föderalen Personenschutzes von Präsident Putin zu sehen sind.

Russischer Präsident Wladimir Putin begrüßt den Tiergarten-Mörder Wadim Krassikow in Moskau nach dem GefangenenaustauschBild: Mikhail Voskresensky/ITAR-TASS/IMAGO

Darüber hinaus sagte er selbst den Zeugen, die wir überreden konnten, zum Gerichtsprozess (im Fall des Mordes an Selimchan Changoschwili im Kleinen Tiergarten - Anm. d. Red.) nach Berlin zu kommen, dass er Putin kenne, aber natürlich erzählte er nie die vollständigen Hintergründe seines Verhältnisses zu Putin.

Zu diesem persönlichen Aspekt - den Beziehungen zu Putin - muss man hinzufügen, dass er ein Oberst des FSB ist, ein Held, der für irgendwelche Ereignisse Auszeichnungen erhalten hat. Natürlich ist es für das System und nicht nur für Putin sehr wichtig, solche Menschen zurückzuholen, damit künftigen Mördern, die dieses Regime offenbar noch auf Mission schicken wird, Immunität vor Strafverfolgung und lebenslanger Haft versprochen werden kann. Daher war Krassikow eine Schlüsselfigur. Das war für uns schon zu Beginn des Verhandlungsprozesses klar.

Wie kamen die anderen russischen Agenten auf die Liste , die Teil dieses Austauschs waren? Ging die Initiative von Moskau aus oder hat man sie Moskau vorgeschlagen?

Der Prozess war interessant, denn die russische Seite fürchtete sich sehr davor, für sie wichtige Personen zu benennen, damit der Westen ihrer Bedeutung nicht bewusst wird. Vor allem was Personen angeht, die von einem Gericht noch nicht für schuldig befunden wurden und die lediglich als Verdächtige galten. Hätte man irgendjemanden von ihnen benannt, käme das einem Schuldeingeständnis gleich. Daher war es schwer zu begreifen, wen der Kreml haben wollte.

Eine der Bedingungen, die wir schon früh in diesem Prozess der informellen Verhandlungen vernahmen, war, dass der Kreml niemanden wollte, der nicht das gesamte Gerichtsverfahren durchlaufen und kein endgültiges Gerichtsurteil erhalten hat. Deshalb wollten die Russen bis zum letzten Moment nicht diejenigen benennen, die letztendlich auf die Liste kamen.

Offenbar wurden sie vom Westen in den letzten drei bis vier Monaten nach dem Tod von Alexej Nawalny vorgeschlagen. Und es wurde versprochen, dass sie bis zu diesem Austausch ihr gesamtes Gerichtsverfahren durchlaufen würden. So ist es auch gekommen, zum Beispiel bei einem slowenisches Ehepaar, dessen Gerichtsverfahren innerhalb einer Woche abgeschlossen war. Normalerweise dauert das natürlich viele Monate.

Journalist Christo GrozevBild: Julien de Rosa/AFP/Getty Images

Die Belarussen diskutieren, warum bei dem Austausch kein einziger belarussischer politischer Gefangener dabei war, obwohl Rico Krieger von einem belarussischen Gericht zum Tode verurteilt worden war? Warum ist das aus Ihrer Sicht so?

Dieser Austausch war keineswegs ideal. Mir ist klar, warum das passiert ist. Denn die Verhaftung (von Rico Krieger - Anm. d. Red.) und das Todesurteil wurden quasi auf Anordnung des Kremls als Teil des letzten Drucks auf Deutschland erlassen, damit Deutschland der Auslieferung Krassikows zustimmt. Das heißt, es war keine souveräne Entscheidung des belarussischen Diktators, sondern es war ein Dienst, den er geleistet hat. Daher betrachtete Deutschland dies höchstwahrscheinlich als etwas im Verhältnis zwischen Russland und Deutschland.

Sind weitere Austausche möglich? Gibt es noch andere Personen, die für Putin eine mit Krassikow vergleichbare Bedeutung haben?

Meiner Meinung nach gibt es solche Personen nicht. Weitere Helden Russlands wie Krassikow, der im Auftrag Putins auf eine solche Mission geschickt wurde, sind uns derzeit nicht bekannt. Vergleichbar damit sind beispielsweise nur Petrow und Baschirow, die ebenfalls Helden Russlands waren, als sie losgeschickt wurden, um die Skripals zu vergiften (der russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia wurden 2018 in der britischen Stadt Salisbury mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet - Anm. d. Red.).

Derzeit gibt es keine derartigen Fälle. Aber wir sehen aufgrund des Krieges eine enorme Zunahme der russischen Spionageaktivitäten. Wir sehen Brandstiftungen in Polen, in der Tschechischen Republik und in Frankreich.

Ich bin sicher, dass Unachtsamkeit des Kremls und der Wunsch, eine Welle des Terrors in ganz Europa und der Welt auszulösen, zu neuen Verhaftungen und möglicherweise neuen Austauschen führen werden. Ich glaube, dass es Austausche geben wird, weil eine entsprechende psychologische Hürde genommen wurde. Das hat gezeigt, dass es möglich ist, auch in ungewöhnlichen Fällen zu verhandeln, wo gegen die alte Regel verstoßen wurde, nach der nur einer gegen einen ausgetauscht wurde. Es muss symmetrische Austausche geben. Aber Deutschland ist hier sehr mutig aufgetreten und hat nein gesagt. Es hat gesagt, dass es für einen Mörder viele wolle - Umso mehr, als Nawalny zu diesem Zeitpunkt schon verstorben war. Deutschland hatte das moralische Recht, dies zu sagen.

Ausgetauschte politische Gefangene aus Russland beim Treffen mit den Journalisten im DW-Funkhaus in BonnBild: Florian Görner/DW

Was könnte zukünftige Austausche verhindern?

Der Wunsch Putins und des Putin-Systems, sich zu rächen, könnte sie verhindern. Zum Beispiel die Entsendung von Attentätern, die körperliche Gewalt gegen diejenigen ausüben, die bei einem Austausch freigelassen wurden. Dies wäre kein Präzedenzfall, denn genauso war es mit Sergej Skripal. Dies könnte künftigen Austauschen in den nächsten 15 Jahren im Wege stehen oder sie sogar für immer unmöglich machen. Sollte sich der Kreml jedoch pragmatisch verhalten, könnten sich meiner Meinung nach Möglichkeiten für künftige Austausche ergeben.

Sind Ihrer Meinung nach die jetzt freigelassenen politischen Gefangenen von irgendetwas außerhalb Russlands bedroht?

Wir haben alle den Post von Dmitrij Medwedew gelesen, in dem er praktisch dazu aufruft, die Menschen zu eliminieren, die er als Verräter bezeichnet (Der Telegram-Post des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrats Russlands am Tag des Gefangenenaustausches - Anm. d. Red.)

Er sagt, dass sie sich nach links und rechts umschauen sollten. Nun, er weiß wahrscheinlich mehr als ich. Deshalb denke ich, dass wir vorsichtig sein müssen. Umso mehr, dass das Terrorsystem des Kremls ziemlich dezentralisiert ist. Es gibt viele Gruppen, die glauben, dass sie Putins Wünsche und Willen erfüllen und Ergebnisse bringen müssen, auch wenn dies nicht sein Befehl war. Sie könnten solche Worte Medwedews für einen staatlichen Befehl halten. Ich fürchte, dass dies eine Atmosphäre für Exzesse von Vollstreckern schaffen wird.

Das Gespräch führte Olga Tikhomirova

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Spektakulärer Gefangenenaustausch

02:56

This browser does not support the video element.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen