Geflüchtet, verletzt, vergessen: Alltag in Polens Grenzwald
4. Juli 2025
Aleksandra Chrzanowska bleibt kurz stehen, prüft ihren Standort auf dem Handy und läuft dann mitten in den Wald hinein - ohne einem Weg oder gar einem Wegweiser zu folgen. Ihre Schritte sind sicher, obwohl der Boden uneben und morastig ist.
Der Bialowieza-Nationalpark ist der letzte Urwald Europas. Nahezu jeden Tag ist Chrzanowska, Mitarbeiterin der Warschauer Menschenrechtsorganisation "Association for Legal Intervention", seit 2021 in dem Wald an der polnisch-belarussischen Grenze unterwegs. Damals begann Belarus, Menschen aus Drittstaaten die Einreise nach Polen zu erleichtern, um Druck auf die EU auszuüben. Polen reagierte mit Grenzzäunen und Zurückweisungen. Seitdem hat sich die Situation an der Grenze zu einer humanitären Krise ausgewachsen.
Chrzanowska zeigt eine Karte auf ihrem Handy, die mit bunten Markierungen übersät ist. Jede von ihnen steht für eine "Intervention", so nennen die Aktivisten des Netzwerkes Grupa Granica die humanitären Einsätze im Grenzwald zu Belarus. Sie bringen vor allem warme Suppe, Wasser, Kleidung, Schuhe und Powerbanks. Häufig leisten sie auch medizinische Hilfe, in schweren Fällen unterstützt sie ein Arzt.
Fünf-Meter-Stahlzaun hält Migration nicht auf
Seit der fünf Meter hohe Grenzzaun an der Grenze zu Belarus gebaut wurde, haben Verletzungen wie Knochenbrüche oder tiefe Schnittwunden durch Stacheldraht stark zugenommen. "Der Zaun hält die Menschen nicht auf", sagt Chrzanowska. "Sie haben keine Wahl. In ihrer Heimat ist ihr Leben in Gefahr." Rund 5600 Notrufe erreichten die Grupa Granica 2024, bei etwa 1400 konnten sie eingreifen und damit 3400 Menschen helfen. Die gestrandeten Migrantinnen und Migranten kamen aus Ländern wie Syrien, Eritrea, Sudan, Somalia und Afghanistan.
Im gleichen Jahr meldete der polnische Grenzschutz rund 30.000 versuchte illegale Grenzübertritte. Und die Zahlen steigen: Frontex meldete für 2024 auf der sogenannten östlichen Migrationsroute über Belarus einen Zuwachs von rund 200 Prozent.
Geflüchtete bitten via Nottelefon um Hilfe
An diesem Tag ist Aleksandra Chrzanowska auf dem Weg zu einer Markierung, um übriggebliebene Sachen von einer früheren Intervention einzusammeln. Manchmal kann die Grupa Granica die Sachen für spätere Einsätze wiederverwenden, vor allem aber soll kein Müll in dem einzigartigen Naturschutzgebiet zurückbleiben. Chrzanowska zieht sich Einweghandschuhe an und steckt eine Thermoskanne, eine zerrissene Jacke und einen Kinderschuh in den Müllbeutel.
Ihr Handy klingelt, das Basislager ruft an. Der Empfang ist schlecht, Chrzanowska flucht, doch das Wichtigste hat sie verstanden: Zwei Afghanen haben soeben über den internationalen Notruf per SMS um Hilfe gebeten. "Wir müssen uns beeilen", sagt sie und ist mit einem Mal wie ausgewechselt. Chrzanowska schnappt sich den Müllbeutel und hört sich auf dem Weg zum Basislager im Laufschritt die Sprachnachrichten mit den Einzelheiten der kommenden Intervention an.
Tief im Wald versteckt
Einer der Männer habe tiefe Schnittwunden, heißt es in den Sprachnachrichten, außerdem bitten die afghanischen Flüchtlinge um trockene Kleidung und Schuhe, da sie durchnässt seien. Sie haben ein Foto der Schnittwunde geschickt, das zur Konsultation an einen Arzt weitergeleitet wird. Derweilen packen im Basislager weitere Freiwillige die benötigten Sachen in große Reiserucksäcke.
Kurz darauf gehen Chrzanowska und eine weitere Aktivistin los, zunächst über einen Forstweg, dann mitten hinein in den Wald, aus Sicherheitsgründen allein. Sie treffen die Geflüchteten an der Markierung, welche diese zuvor geschickt haben. Als sie zusammen zurückkommen, erzählt Chrzanowska, die beiden Männer hätten sich gut versteckt, es habe gedauert, bis sie sie gefunden hätten.
Die Männer, Mitte 20, sprechen kein Englisch. Die Aktivistinnen behelfen sich mit Übersetzer-Apps auf dem Handy, tippen Fragen ein, die dann auf Paschtu übersetzt werden. Wie lange sie schon im Wald seien? Die Männer tippen in das Handy: einige Wochen, auf der polnischen Seite seit drei Tagen. Es sei ihr dritter Versuch, zwei Pushbacks hätten sie bereits hinter sich. Das heißt, der polnische Grenzschutz hat sie bereits zweimal aufgegriffen und sie trotz ihres Asylgesuchs nach Belarus zurückgebracht. Seit dem 27. März 2025 ist in Polen das Asylrecht an der Grenze zu Belarus ausgesetzt.
Schwere Verletzungen durch Grenzzaun
Die Männer haben seit mehreren Tagen weder gegessen noch getrunken und nehmen die mitgebrachte Kichererbsen-Suppe, den gesüßten Tee und das Trinkwasser dankbar an. Während sie sich stärken, bespricht sich Chrzanowska per Textnachrichten mit dem Arzt. Die Wunde am Fuß des einen Mannes ist tiefer, als es vorab auf dem Foto aussah. Der Arzt schickt Chrzanowska Anweisungen, wie sie die Schnitte säubern und verarzten soll.
Zugezogen habe er sich die Wunde beim Sprung über den Grenzzaun, tippt der verletzte Mann ins Handy. Die bewaffneten belarussischen Soldaten, die die Migrierenden zur Grenze begleiteten, seien äußerst aggressiv gewesen und hätten sie geschlagen. Sie hätten eine Leiter am fünf Meter hohen Stahlzaun an der Grenze aufgestellt und die Afghanen gezwungen, auf der anderen Seite herunterzuspringen. "Normalerweise würden wir einen Krankenwagen rufen, damit die Wunde fachgerecht versorgt werden kann", sagt Aleksandra Chrzanowska. Doch das sei seit dem verhängten Asylstopp zu riskant, denn "dann sind auch Grenzbeamte dabei. Und damit ist das Risiko sehr hoch, dass die Flüchtlinge erneut nach Belarus zurückgebracht werden, unabhängig von der Verletzung."
Lokale Hilfsorganisationen auf sich gestellt
Die Intervention dauert etwa eine halbe Stunde. Chrzanowska versucht so gut es geht, die Wunde zu reinigen. Der Mann habe sehr starke Schmerzen gehabt und lag geschwächt auf dem Waldboden, berichtet sie später. "Ich habe mir Sorgen gemacht, ob er überhaupt noch laufen kann", erzählt sie, als sie von der Intervention zurückkommt. Nachdem er etwas gegessen und getrunken habe, habe er sich jedoch schnell stabilisiert.
Für Aleksandra Chrzanowska ist das immer wieder ein berührender Moment: "Anfangs sind die Geflüchteten sehr verängstigt. Manchmal hat man sogar das Gefühl, dass sie sich ein bisschen wie wilde Tiere verhalten, die sich verstecken und überleben müssen. Wenn sie dann trockene Kleidung tragen und heißen Tee getrunken oder warme Suppe gegessen haben, sieht man, wie sie wieder zu Menschen werden." Manche bestünden dann auch darauf, das Essen mit ihr zu teilen.
Das Netzwerk Grupa Granica besteht aus zahlreichen lokalen NGOs und Hilfsinitiativen und wird von Hunderten ehrenamtlichen und einigen wenigen hauptamtlichen Helfern getragen. Bis auf Ärzte ohne Grenzen ist an der polnisch-belarussischen Grenze keine internationale NGO tätig - anders als an anderen EU-Außengrenzen.
Die polnische Regierung sieht die Arbeit der Aktivistinnen und Aktivisten kritisch und kriminalisiert ihre Unterstützung. Derzeit stehen unter anderem fünf Flüchtlingshelfer im ostpolnischen Hajnowka vor Gericht, die einer irakisch-kurdischen Familie mit sieben Kindern im Wald geholfen hatten. Ihnen wird Unterstützung von illegal Eingereisten zum eigenen Vorteil vorgeworfen.
Aleksandra Chrzanowska schüchtern diese Vorwürfe nicht ein. "Helfen ist legal", sagt sie knapp. Nur einige Stunden später geht der nächste Notruf ein: Eine Gruppe von vier Afghanen bittet um Hilfe, einer gibt an, sich beim Fall vom Grenzzaun das Bein gebrochen zu haben. Diesmal wird ein Arzt die Flüchtlingshelfer begleiten.
Die Reportage wurde durch das Recherchestipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert.