Gegen das Vergessen: Inge Deutschkron
22. August 2012Das erste was einem an dieser zierlichen Frau auffällt, sind ihre schnellen Schritte. In knallroten Hausschuhen wirbelt Inge Deutschkron durch ihre riesige Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Bücherregale und alte Schwarzweiß-Fotos schmücken die Wände, der Duft von frischen Blumen durchströmt die Zimmer. "Ein Tag müsste für mich doppelt so viele Stunden haben", sagt sie und streicht sich durch das raspelkurze Haar. Buchprojekte, Vorträge auf der ganzen Welt, der Besuch von Schulen - ihr Terminplan ist randvoll und sie denkt nicht daran, kürzer zu treten. "90 ist doch kein Alter", schallt es mit einem Lachen aus ihr heraus.
Als die Hoffnung brannteInge Deutschkron gehört zu den wichtigsten Zeitzeugen, die das Grauen des Nationalsozialismus am eigenen Leib erlebt haben. Das Erinnern daran wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Sie wuchs als Tochter eines Lehrers und überzeugten Sozialdemokraten in Berlin auf. "Wir waren überhaupt nicht religiös. Dass ich Jüdin bin, wurde mir erst 1933 bewusst", erklärt sie mit fester Stimme. Nach der Machtergreifung der Nazis begannen ihre Mitschüler sie zu meiden, als "dreckige Jüdin" zu beschimpfen.
"Uns wurde Stück für Stück jede Freiheit genommen" erinnert sich Inge Deutschkron. "Zuerst durften wir öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen. Dann wurde uns verboten, nach 20 Uhr überhaupt raus zu gehen. Nach und nach mussten wir alles abgeben, was wir besaßen". Ihr Vater war da längst vom Schuldienst suspendiert worden. Dennoch fiel es ihm, wie vielen älteren Juden, schwer, den Ernst der Lage zu akzeptieren. "Er fühlte sich als Deutscher, hatte im Ersten Weltkrieg für sein Land gekämpft und glaubte lange, dass Hitler ein harmloser Dummkopf ist." Doch die Pogromnacht 1938 öffnete ihm die Augen. "Überall brannten die Synagogen, Juden wurden endgültig zum Freiwild erklärt", beschreibt Inge Deutschkron jene Nacht vom 9. November.
Stille Helden
Ihr Vater schaffte es kurze Zeit später nach England zu emigrieren. Tochter und Frau sollten nachkommen, doch ihnen gelang die Ausreise nicht mehr. Sie sahen wie Nachbarn und Freunde deportiert wurden. Inge Deutschkron und ihre Mutter überlebten - dank der Hilfe von Menschen, die sie illegal versteckten. "Das waren Nichtjuden, einfache Handwerker, Rentnerinnen", erinnert sie sich. "Sie konnten diese Barbarei nicht ertragen und riskierten ihr Leben, um unseres zu retten."
Rund 1.700 Berliner überlebten mit Hilfe dieser "stillen Helden", wie Inge Deutschkron sie nennt. Es war auch diese Menschlichkeit, die sie später mit Deutschland, dem Land der Täter, versöhnte. Nach Kriegsende ging sie nach England, lebte eine Zeit lang in Israel. 1955 kam sie als politische Korrespondentin der israelischen Zeitung "Ma´ariv" nach Bonn. "Es war die Adenauer-Zeit. In allen Ämtern und Ministerien saßen ehemalige Nazis", so Inge Deutschkron. "Einer sagte mir sogar grinsend ins Gesicht, dass nun eine andere Zeit sei und ich vergessen müsse."
Zivilcourage gegen UnmenschlichkeitGenau das kann und wollte Inge Deutschkron nicht. Sie schrieb über ihre Ausgrenzung während des NS-Regimes in ihrer Autobiografie "Ich trug den gelben Stern" und beschrieb in ihrem Buch "Mein Leben nach dem Überleben" das lange Hadern der Deutschen mit der eigenen Verantwortung. Mit ihrem Verein "Blindes Vertrauen" setzt sie sich gegen Diskriminierung ein. Für ihr unermüdliches Engagement wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Moses-Mendelssohn-Preis. Besonders wichtig ist ihr das Gespräch mit jungen Menschen. Sie besucht Schulen, erzählt dort ihre Lebensgeschichte. "Die Schüler sind wahnsinnig neugierig und fragen mir Löcher in den Bauch", stellt sie stolz fest.
Diese Neugier, diese Sensibilität ist für Inge Deutschkron ein Hoffnungsschimmer. "So eine Katastrophe kann immer wieder passieren", mahnt sie und deutet auf die Zeitung auf ihrem Schreibtisch. "Drei junge Rechtsextreme aus Zwickau haben jahrelang Ausländer in Deutschland ermordet - ohne dass die Polizei was mitbekommen hat", empört sie sich. Doch aufgeben, resignieren ist nicht ihre Sache - auch nicht mit 90 Jahren. Gegen Unmenschlichkeit helfe nur Zivilcourage. Und der Mut, sich zu erinnern.