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Politik

Gegen den Extremismus hinter Gittern

18. Februar 2019

Die Zahl der Gefangenen mit islamistischer Einstellung wächst. Dadurch besteht auch die Gefahr, dass sich weitere Insassen radikalisieren. Deshalb gibt es Programme, die den Häftlingen einen Ausweg bieten.

Gefängnis Stacheldraht
Bild: picture-alliance/dpa/W. Steinberg

Chérif Chekatt hat in den 29 Jahren seines Lebens viele Gefängnisse von innen gesehen, in Frankreich, aber auch in Konstanz und Freiburg. Verurteilt wurde er vor allem wegen Einbruchsdiebstählen. Hinter Gittern wurde jedoch aus dem Kriminellen allmählich ein Extremist, der französische Geheimdienst führte ihn seit 2015 in der Sicherheitsakte "Fiche S". Am 11. Dezember 2018 verübte Chekatt einen Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt, bei dem er fünf Menschen tötete. Sicherheitskräfte töteten ihn zwei Tage später, die Terrormiliz IS bezeichnete ihn posthum als einen ihrer "Soldaten".

Dass zahlreiche Insassen von Gefängnissen anfällig sind für radikales Gedankengut, ist nicht erst seit dem Fall Chekatt bekannt. "Ein Salafist geht rein, fünf kommen raus", so brachte es ein hessischer Verfassungsschützer 2015 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) auf den Punkt. Von den 750 Personen, die das Bundeskriminalamt (BKA) als sogenannte "Gefährder" einstuft, sitzen nach Auskunft der Behörde derzeit 116 in deutschen Gefängnissen ein. Damit sie und andere ihr extremistisches Gedankengut nicht weitergeben, sondern bestenfalls sogar ablegen, gibt es in allen 16 Bundesländern Programme zur Extremismus-Prävention und Deradikalisierung hinter Gittern.

Zum Denken animieren

In acht Bundesländern ist der Berliner Verein "Violence Prevention Network" (VPN) mit dieser Aufgabe befasst, in sechs Ländern bieten die Mitarbeiter des Vereins in Gefängnissen den Dreiklang aus Prävention, Fortbildung und Deradikalisierung an. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir es tatsächlich schaffen können, Arbeitsbeziehungen aufzubauen", sagte VPN-Geschäftsführer Thomas Mücke der DW. "In einem längeren Beratungsprozess sorgen wir dafür, dass die Menschen anfangen, nochmal selber nachzudenken und nicht irgendwelchen Ideologien hinterher zu laufen."

Thomas Mücke ist Mitgründer und Geschäftsführer des Violence Prevention NetworksBild: VPN/Klages

Die pädagogischen Mitarbeiter von VPN sind zum Teil religiöse Muslime, aber nicht alle: "Es ist für den Erstkontakt sehr wichtig, dass das Gegenüber interessant ist", sagt Mücke. Dabei zögen manche Klienten ein religiöses Gegenüber vor, für manche sei jedoch eine atheistische Grundeinstellung wichtig. 2017 belegte eine Studie des BKA, dass Prävention und Deradikalisierung vor allem dann erfolgreich ist, wenn ein "möglichst breit aufgestelltes Portfolio an Maßnahmen und vielfältige Identifikationsmöglichkeiten" angeboten werden.

VPN entsendet seine pädagogischen Mitarbeiter deshalb direkt in Zweierteams in die Haftanstalten. Die Tandems begegnen meist acht Personen in Gruppensitzungen, in komplizierteren Fällen halten sie auch Einzelsitzungen ab. Darin sollen die Häftlinge vor allem die Brüche in ihrer Biografie nachvollziehen und begreifen, warum sie zu einem bestimmten Zeitpunkt für extremistisches Gedankengut anfällig waren. "Wenn jemand einer Ideologie folgt, in der das Existenzrecht anderer Menschen abgelehnt wird, und wir bemerken die Zweifel, dann kommt häufig irgendwann der Punkt, an dem derjenige sagt, dass er eigentlich ein ganz normales Leben führen möchte", sagte Mücke. "Dann versuchen wir an diesem Punkt mit ihm zu arbeiten." Häufig entwickeln die Klienten im Laufe das Trainings einen eigenen Antrieb, etwas zu ändern - selbst, wenn sie eigentlich aus anderen Gründen begonnen haben. Eine Haftverkürzung könnten sie damit nur erreichen, wenn nachweislich festgestellt werden kann, dass ein Betroffener seine Haltung verändert hat.

Das Leben danach

Hat ein Häftling seine Strafe verbüßt, darf er sich aus dem Tandem einen Mitarbeiter aussuchen, der ihn sechs bis zwölf Monate weiter betreut - oder länger, falls erforderlich. Die soziale Integration sei nicht einfach, sagte Thomas Mücke: "Wenn zum Beispiel bekannt ist, dass sie sich in einem Kampfgebiet aufgehalten haben, wird es schwierig, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz zu finden. Dieser Personenkreis muss nach der Haftentlassung sehr intensiv betreut werden, damit die Betroffenen wieder einen Weg zurück in die Gesellschaft finden." Rückschläge gehörten dazu, sagte Mücke, aber gerade beim Verhindern von Selbst- und Fremdgefährdung sei man auf einem guten Weg.

Die Gesellschaft drückt häufig Ex-Häftlingen einen Stempel aufBild: picture-alliance/blickwinkel/McPHOTOs

Die Abbrecherquote der Programme von VPN liegt bei zwei Prozent. "Die meisten lassen sich tatsächlich auf diesen Prozess ein - auch auf die Betreuung nach der Haftzeit", sagte VPN-Geschäftsführer Mücke der DW. Er warnte jedoch vor überzogenen Erwartungen: "Natürlich wird es nicht in jedem einzelnen Falle gelingen", so Mücke. "Aber wenn man gar nichts macht, entsteht ein Flächenbrand, der kaum noch kontrollierbar ist."

Mehr Islamisten, keine Rückfälle

Die Zahl der Gefangenen mit islamistischem Hintergrund steigt - in Baden-Württemberg zum Beispiel lag sie bis Mitte 2016 im einstelligen Bereich, nach einem rapiden Anstieg zählt das Justizministerium in Stuttgart derzeit 41 Islamisten. Davon sind jedoch nur zwei Personen wegen einer islamistisch motivierten Straftat verurteilt, weitere 13 sitzen deswegen in Untersuchungshaft, die übrigen sitzen wegen anderer Delikte ein und werden als mögliche Islamisten beobachtet. Neben dem VPN ist dort auch das Kompetenzzentrum gegen Aktivismus "konex" aktiv. Ein Ministeriumssprecher teilte der DW mit, dass "nach allseits sehr positiven Bewertungen" die Mittel für die jeweiligen Programme aufgestockt würden. Wie wirksam die Bemühungen letztlich sind, könne jedoch nicht gesagt werden, weil die Zielerreichung nur begrenzt messbar sei und die Zahl der einschlägig Verurteilter gering.

In Hamburg-Barmbek ging 2017 ein 27-Jähriger, der sich selbst als Terrorist bezeichnete, mit einem Messer auf Supermarktkunden los und tötete einen Mann - er sitzt lebenslänglich im GefängnisBild: picture-alliance/dpa/M. Scholz

Aus denselben Gründen gilt auch in Hamburg die Erfolgsmessung als schwierig. "Wir haben jedenfalls bisher nicht beobachten können, dass sich Gefangene während der Haftzeit radikalisieren würden oder dass Hamburgs Gefängnisse Orte der Rekrutierung durch extremistische Gruppen wären", betonte ein Sprecher der Justizbehörde. In der Hansestadt sitzen derzeit neun als Extremisten identifizierte Personen ein.

Eindeutiger äußerte sich zum Jahreswechsel der Präsident des Frankfurter Oberlandesgerichts (OLG), Roman Poseck. "Durch den Strafvollzug werden die Verurteilten aus ihrem islamistischen Umfeld herausgerissen und der Indoktrination durch islamistische Propaganda entzogen", sagte Poseck in einer Pressemitteilung. Die Arbeit des VPN in der Strafvollstreckung setze "an den richtigen Stellen" an. In Hessen habe es seit 2010 bisher keinen einzigen Rückfall gegeben, nachdem Islamisten ihre vom OLG verhängten Strafen verbüßt hätten.

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