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GesellschaftDeutschland

Kinderarmut trotzen: Jedes Kind hat Talente

14. Oktober 2022

Klavier, Ballett, Reisen - für manche Kinder nur ein Traum. Das Elternhaus prägt die Chancen. Wie kann man alle Kinder gut auf die Schule vorbereiten?

Blick in eine Turnhalle: im Vordergrund ein Junge, der freundlich in die Kamera schaut, hinter ihm klettern zwei Kinder über Seile, die zwischen zwei Bänken gespannt sind
Sport, Ausflüge, Musik, Kunst, Experimente - die Kita-Kinder im Modellprojekt werden intensiv gefördertBild: Andrea Grunau/DW

Sechs Kinder laufen durch die Turnhalle der Gelsenkirchener Kindertagesstätte (Kita) in Nordrhein-Westfalen. Hermine und Thalia klettern eine Rampe zur Sprossenwand hoch, rutschen rasant runter und nehmen Anlauf für die nächste Runde.

Andere Kinder kriechen und balancieren abwechselnd unter und über gespannte Seile, sie üben springen, Bälle werfen oder schlängeln sich auf einem Rollbrett durch einen Parcours roter Stangen. Konzentriert üben sie, bis sie die Herausforderung meistern.

"Ihr Lieben, kommt ihr einmal zusammen?", ruft Bildungsbegleiterin Farzana Mecklenbrauck: "Wie hat es euch gefallen?" "Gut! Gut! Gut!", schallt es ihr entgegen.

Bildungsbegleiterin Farzana Mecklenbrauck betreut alle Vorschulkinder in der Kita, damit der Übergang in die Schule gelingtBild: Andrea Grunau/DW

Kinder stärken, Talente wecken: Die Turnhalle ist nur eins von vielen Angeboten für alle Fünfjährigen, die nächstes Jahr in die Schule kommen.

Kinderarmut hat viele Aspekte

Die Sozialpädagogin betreut die Kinder intensiv im Modellprojekt "Zukunft früh sichern" (ZUSi). Sieben Kitas im Stadtteil Ückendorf machen mit bei der Förderung der Kinder - gegen die Folgen der Armut im Stadtteil. Es geht nicht nur um fehlendes Geld, sondern auch um kulturelle Barrieren wie fehlende Deutsch-Kenntnisse, um soziale oder gesundheitliche Beeinträchtigungen und Bildungsarmut.

Gelsenkirchen - wie andere Städte im Ruhrgebiet im Strukturwandel - kämpft seit Jahren gegen besonders hohe Kinderarmut. 40 Prozent der unter 15-Jährigen lebten Ende 2021 in Familien, die Sozialleistungen erhalten.

Im Stadtteil Ückendorf arbeiteten früher viele Menschen im Bergbau. Heute wohnen hier besonders viele von Armut betroffene Familien, aber auch solche ohne Geldsorgen.

Etwa sieben von zehn Kindern (bis neun Jahren) leben in Familien mit Migrationsgeschichte. Sie sind besonders armutsgefährdet, ähnlich wie Alleinerziehende und Familien ab drei Kindern. Bei Beginn des ZUSi-Projekts erreichten die Kinder aus ärmeren Familien nur 50 Prozent der altersgemäßen Fähigkeiten.

Ausgangslage im Modellprojekt: Kinder aus armen Familien erreichten nur 50 Prozent der altersgemäßen Fähigkeiten

Talente aller Kinder entwickeln

Von der Bildungsbegleitung profitieren Kinder aus allen Familien, arm oder nicht: Sie besuchen einen Bauernhof, gehen mit dem Förster durch den Wald, lernen mit einer Künstlerin malen, probieren mit der Musikschule in der Kita Instrumente aus oder machen Experimente zu Strom, Magnetismus oder Vulkanen. Bald sollen Theatertage und ein Fahrradprojekt folgen.

Die Vorschulkinder besuchen die nahegelegene Grundschule, um Ängste und Barrieren abzubauen. Regelmäßig gibt es Resilienz-Stunden, um die Kinder zu stärken: Gefühle wahrzunehmen und darüber zu sprechen. "Am ganzen Körper von oben bis unten merke ich, wenn ich wütend bin", habe ein Junge berichtet. Die Kinder lernen, Konflikte zu lösen und Erfolge zu erarbeiten. Wer sich am Anfang nicht auf die Kletterwand traute, konnte jede Woche üben.

Die Grundschule - nicht weit von der Kita entfernt - haben die ZUSi-Kinder schon oft besuchtBild: Andrea Grunau/DW

Hermine hat ihr künstlerisches Talent entwickelt, ihr Bild hängt in einer kleinen Ausstellung. Younes hat in der Kita eine Handtrommel gebaut und liebt es zu tanzen. Als er davon erzählt, macht er gleich ein paar Tanzschritte auf der Stelle. Thalia klettert und malt sehr gerne, sagt sie.

Hilfe beim Wechsel von der Kita in die Schule

Bildungsbegleiterin Farzana Mecklenbrauck hilft, die Kinder an Vereine mit entsprechenden Angeboten zu vermitteln und Anbieter in die Kita zu holen. Bei den Eltern komme das ZUSi-Angebot sehr gut an, berichtet sie.

Mütter hätten geweint vor Rührung über den positiven Blick auf ihre Kinder und gesagt: "Ich habe schon so lange nichts Positives mehr gehört", bestätigt Jessica Stettinus vom Sozialdienst Schule der Stadt Gelsenkirchen. Eltern werde oft nur gesagt, was Kinder nicht können, beim Kinderarzt oder der Schuleingangsuntersuchung. An drei Schulen in Ückendorf wird das Projekt fortgesetzt.

Zahia Bourezg stammt aus Algerien, ihr Mann kam vor vielen Jahren aus dem Irak nach Deutschland. Ihre ältere Tochter Lina nimmt am ZUSi-Projekt teil, erst als Vierjährige in der Kita, mittlerweile in der 2. Klasse. Die Förderung habe Lina sehr geholfen beim Wechsel in die Grundschule.

Zahia Bourezg (li.) und Janet Janßen sind froh, dass ihre Kinder individuell gefördert und auf die Schule vorbereitet werdenBild: Andrea Grunau/DW

Jetzt genieße auch ihre jüngere Tochter Lara die ZUSi-Angebote in der Kita: "Dann kommt sie immer sehr happy nach Hause." Die Familie leihe sich mehrsprachige Bücher aus: "Wir lernen zusammen." Im Kita-Medienraum gibt es auch Spiele zum Ausprobieren.

Direkter Draht zu den Eltern in 40 Sprachen

Janet Janßen begrüßt es, dass ihre Tochter Hermine künstlerisch gefördert wird. Sie wollte mit ihr auch in die Stadtbibliothek, "aber mit meiner Arbeit war das nicht einfach". Die ZUSi-Kinder waren zusammen dort.

Berichte über solche Aktivitäten können die Eltern in der neuen ZUSi-App nachlesen und selbst Kontakt aufnehmen. In 40 Sprachen ist das möglich, sagt Sebastian Gerlach, Koordinator der Stadt Gelsenkirchen für das Projekt "Zukunft früh sichern". Die App soll auf Kitas in der ganzen Stadt ausgeweitet werden.

Per App werden die Kita-Eltern über Aktivitäten und Termine ihrer Kinder informiert - in 40 verschiedenen SprachenBild: Andrea Grunau/DW

Jedes 5. Kind in Deutschland ist von Armut betroffen

Wenn im reichen Industrieland Deutschland zehn Kinder auf einem Spielplatz spielen, sind statistisch zwei Kinder von Armut betroffen oder gefährdet. Landesweit ist es jedes 5. Kind, in Stadtteilen wie Gelsenkirchen-Ückendorf mehr als doppelt so viele.

Das heiße nicht, dass diese Kinder auf der Straße leben oder arbeiten müssten, um zu überleben, wie in sehr armen Ländern, sagt Armutsforscherin Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), die das ZUSi-Projekt wissenschaftlich begleitet und auswertet. Die Kinder haben aber schlechtere Chancen auf eine altersgemäße Entwicklung.

Armutsforscherin Irina Volf vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik hat das Modellprojekt "Zukunft früh fördern" in der Kinderkommission des Bundestags vorgestelltBild: Privat

Manche großen Familien mit niedrigem Einkommen haben Probleme, jedem Kind jeden Tag die Brotdose für Kita oder Schule zu füllen. Die Kita in Ückendorf bietet allen Kindern für 50 Cent jeden Morgen ein gesundes Frühstück an.

Armutssensibilität: Geburtstage und Tauschbörse

Zum Projekt ZUSi gehört die Schulung aller Bildungskräfte in Kitas und Schulen in Armutssensibilität. Jeder soll wissen, welche Probleme ärmere Familien haben. Im Kita-Alltag hat das zu Veränderungen geführt.

Wenn ein Kind Geburtstag hat, bringen nicht mehr die einen Eltern aufwändige Torten und die anderen gar nichts mit. Stattdessen backen die Erzieherinnen mit den Kindern zusammen. Jedes Geburtstagskind feiert gleich, alle Eltern sind entlastet.

Kinder wachsen schnell, nicht alle Eltern können ständig Schuhe oder Kleidung ersetzen, Gummistiefel oder Matschhosen. Ein wetterfester Schrank wurde gekauft und außerhalb der Kita an einer sichtgeschützten Stelle platziert. Jetzt können Eltern Kleidung deponieren, die ihrem Kind nicht mehr passt, und andere das herausnehmen, was sie für ihre Kinder brauchen.

Armutssensibles Angebot: Tauschbörse im Schrank - Sebastian Gerlach koordiniert das Modellprojekt "Zukunft früh sichern"Bild: Andrea Grunau/DW

"Fachkräfte, die die Wirtschaft dringend braucht"

Kinder aus armen Familien haben schlechtere Bildungschancen als Kinder aus wohlhabenden Familien. Die können viel leichter Klavier- oder Ballettunterricht nehmen, Sportvereine und Kunstschulen besuchen, Ausflüge oder Reisen machen.

Schlechtere Chancen für ärmere Kinder sind nicht nur ungerecht, sondern auch kurzsichtig. Die RAG-Stiftung fördert in der ehemaligen Bergbauregion im Ruhrgebiet viele Projekte, seit 2019 auch das Modellprojekt "Zukunft früh sichern". Zusammen mit zwei Nachfolgeprojekten sind bisher rund 4,5 Millionen Euro zugesagt, teilt die Stiftung der DW mit.

Vorstandsmitglied Bärbel Bergerhoff-Wodopia begründet das so: "Mit der Förderung chancenbenachteiligter Kinder und Jugendlicher übernehmen wir soziale Verantwortung. Am Ende geht es aber immer auch darum, kein Talent ungenutzt zu lassen."

Die Statistik zeigt: Kinder und junge Erwachsene sind besonders oft von Armut betroffen

Sie argumentiert: "Je früher wir ansetzen, um Kinder und Jugendliche auf einen erfolgreichen Bildungsweg zu führen, umso besser. So sorgen wir heute für Bildungsgerechtigkeit und morgen für Fachkräfte, die die Wirtschaft dringend braucht." Das Projekt soll auf Kitas in drei Nachbarstädten übertragen werden.

Was kommt nach dem Modellprojekt?

In den sieben Kitas in Gelsenkirchen endet das Modellprojekt "Zukunft früh sichern" im Mai. Die Zweitklässler in drei Grundschulen sollen noch bis zum Ende der vierten Klasse begleitet werden. Das Projekt ist erfolgreich, betont Forscherin Irina Volf: Kinder aus ärmeren Familien können ihre Fähigkeiten deutlich verbessern, umso mehr, je früher sie in die Kita kommen und je mehr Stunden sie dort betreut werden.

Die Erkenntnisse sollen in Gelsenkirchen dauerhaft im Kita-Alltag verankert werden, sagt Koordinator Sebastian Gerlach. Stellen zur Bildungsbegleitung sind dann aber nicht mehr finanziert. Schon jetzt gebe es eine große Belastung und Fachkräftemangel in Kitas.

Sarah Chaiyo wünscht sich Chancengerechtigkeit für Kinder, die es schwerer haben als ihre TöchterBild: Andrea Grunau/DW

Die ZUSi-Kinder Hermine, Thalia und Younes freuen sich auf die Schule. Thalias Mutter, Sarah Chaiyo, sagt, Chancengerechtigkeit sei in einem bunten Stadtteil wie Gelsenkirchen-Ückendorf besonders wichtig: "Das Projekt sollte auf jeden Fall fortgeführt werden." Ihre Familie sei nicht armutsbetroffen, sie wisse aber, wie schwer es andere hätten. Alles wird immer teurer, "das macht mir Bauchschmerzen".

Armutsforscherin Irina Volf sieht bei der Bekämpfung der Kinderarmut und ihrer Folgen die Politik in der Pflicht: "Es ist eine Schande, dass Deutschland so viele Talente vernachlässigt."

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