In Frankreich lebt mit rund einer halben Millionen die drittgrößte jüdische Gemeinde - nach Israel und den USA. Von Islamisten, Rechtsextremen und Linken bedrängt, fühlen sich dort immer mehr Juden nicht mehr wohl.
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Wir treffen uns in der Synagoge. Es ist Freitag und der Shabbat fängt in wenigen Stunden an. Ilan Shalom beginnt das Nachmittagsgebet. Sein Oberkörper wiegt vor und zurück, er ist konzentriert. Selbst als ein paar kleine Jungen, die Kippa mit einer Haarspange festgesteckt, durch den Gebetsraum flitzen und hinter ihm durch eine Flügeltür zum Musikunterricht verschwinden, lässt er sich nichts anmerken.
"Wenn ich das Gebet einmal angefangen habe, kann ich nicht einfach unterbrechen", sagt er nachträglich. Der 34-jährige Familienvater ist gläubiger Jude, in Jeans und Turnschuhen. Er besucht regelmäßig die Synagoge, ist aktives Gemeindemitglied "aber zu allererst bin ich Franzose, das ist mir wichtig".
Juden ziehen aufs Land
Das französische Innenministerium hat für das Jahr 2018 einen Anstieg der Straftaten gegen Juden um 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Insgesamt handelt es sich um rund 540 Straftaten. Dies seien nur die offiziellen Zahlen, betont Francis Kalifat, Präsident des Zentralrats der Juden Frankreichs (CRIF) in Paris, gegenüber der DW. Längst nicht alle antisemitischen Übergriffe, wie Schmierereien auf Briefkästen etwa, so Kalifat, würden angezeigt. Die Dunkelziffer liege demnach weit höher.
Die Konsequenzen für die jüdische Gemeinde in Frankreich sind vielfältig. Eltern überlegten immer öfter, ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen herauszunehmen, weil sie dort beschimpft würden, sagt Kalifat. Ihn beunruhigt, dass sich gegenwärtig vermehrt jüdische Familien in die ländlichen Regionen zurückziehen, da sie Städte für sich als unsicher einstufen.
Alte Klischees, neuer Hass
In der Pariser Synagoge im 17. Arrondissment räumt Ilan die Thora sorgfältig auf und küsst sie. Am Abend wird er hier das Gebet sprechen, bevor er mit seiner Familie zu Hause den Shabbat beginnt. Noch geht es turbulent zu. Kleine Mädchen in Tanzröckchen huschen kichernd über den Gang, in einer Ecke wird gemalt, kleine Finger strecken sich angestrengt nach oben, alle wollen gleichzeitig drankommen.
"Hier treffen wir uns gerne, es ist wirklich ein lockerer Ort, wo wir am Ende der Woche zusammenkommen, viele bringen ihre kleinen Kinder für das Nachmittagsprogramm mit", lächelt Delphine Taieb und streckt den Arm einladend in Richtung Kaffee-Ecke. Die Stimmung im Land habe wirklich gedreht, findet sie. Sie sei jetzt viel vorsichtiger mit dem was sie sage.
Antisemitismus in Frankreich: "Es reicht"
Tausende Franzosen gingen in Paris auf die Straße, um gegen Antisemitismus zu protestieren. Denn die Zahl judenfeindlicher Vorfälle stieg im vergangenen Jahr sprunghaft an. Auch die Politik hat das Problem erkannt.
Bild: Getty Images/AFP/T. Samson
Frankreich zeigt Flagge
Unter dem Motto "Es reicht" protestierten tausende Menschen am Dienstagabend in ganz Frankreich gegen Antisemitismus. In Paris versammelten sich die Demonstranten auf dem Place de la République. "Nein zur Banalisierung des Hasses" stand auf ihren Plakaten. Zur Kundgebung in Paris hatten 18 Parteien gemeinsam aufgerufen. Als höchster Regierungsvertreter nahm Premierminister Edouard Philippe teil.
Bild: Getty Images/AFP/T. Samson
"Gemeinsam gegen Antisemitismus"
In Frankreich war die Zahl der antisemitischen Strafzahlen 2018 gegenüber dem Vorjahr um 74 Prozent angestiegen. Frankreichs Ex-Präsident Francois Hollande sagte bei seiner Ankunft auf dem Place de la République, "der Antisemitismus ist eine Geißel, er ist ein Angriff auf die Republik". Dabei handele es sich "nicht um eine Angelegenheit der Juden", sondern um "eine Angelegenheit ganz Frankreichs".
Bild: imago/IP3press/A. Sciard
"Nationale Frage"
Französische Muslime haben sich den Demonstrationen gegen Antisemitismus angeschlossen. "Die Regierung muss mehr dagegen tun," sagt Rabbi Michel Serfaty, Vorsitzender des nationalen jüdisch-muslimischen Freundschaftsverbandes. "Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht nur den Bürgern und den Gemeinden überlassen werden. Er muss zur nationalen Frage erhoben werden."
Bild: picture-alliance/T. Camus
Gräberschändung auf jüdischem Friedhof
Präsident Emmanuel Macron hat mittlerweile reagiert: Er kündigte bei einem Besuch im elsässischen Quatzenheim neue Gesetze an. Auf dem dortigen jüdischen Friedhof hatten Unbekannte rund hundert Gräber geschändet. Grabsteine wurden mit Hakenkreuzen beschmiert. Macron hat nun ein entschlosseneres Vorgehen gegen den Antisemitismus zugesagt: "Wir werden Maßnahmen ergreifen (...) und bestrafen."
Bild: Reuters/V. Kessler
"Kommt nach Hause"
Nach seiner Rückkehr aus dem Elsass besuchte Macron zusammen mit den Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern das Holocaustmahnmal in Paris und legte einen Kranz nieder. Auch aus Israel gibt es Reaktionen: Der israelische Einwanderungsminister Joav Gallant rief auf: "Ich verurteile aufs Schärfste den Antisemitismus in Frankreich und rufe die Juden auf: Kommt nach Hause, emigriert nach Israel."
Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Badias
"Du dreckiger Zionist!"
Am Wochenende zuvor war der jüdische Philosoph Alain Finkielkraut am Rande einer "Gelbwesten"-Demonstration beleidigt worden. Die französische Polizei hat nun einen Verdächtigen festgenommen. Nach Angaben der Ermittler wurde er mit Hilfe von Videos identifiziert, die den Übergriff zeigen. Danach beschimpfte er Finkielkraut unter anderem als "dreckiger Zionist".
Bild: Reuters/B. Tessier
Schießerei vor einer jüdischen Schule
In regelmäßigen Abständen wird Frankreich seit vielen Jahren von antisemitischen Vorfällen erschüttert. Einer davon im März 2012: Ein blutiger Anschlag auf eine jüdischen Schule in Toulouse. Dabei sind insgesamt vier Menschen ums Leben gekommen. Darunter drei Kinder. Der Täter feuerte den Augenzeugen zufolge vor der jüdischen Schule Ozar Hatora auf eine Gruppe von Kindern und Eltern.
Bild: AP
Entführt und gefoltert
Schon vor 13 Jahren sorgte ein antisemitisches Gewaltverbrechen für einen Aufschrei der Empörung in Frankreich: Ilan Halimi, ein Jude marokkanischer Herkunft, wurde im Januar 2006 von einer Gruppe muslimischer Einwanderer entführt und drei Wochen lang zu Tode gefoltert. Bis heute legen Mitglieder der jüdischen Gemeinde an seiner Gedenkstätte regelmäßig Blumen nieder und zünden Kerzen an.
Bild: DW/Elizabeth Bryant
Anschlag auf "Charlie Hebdo"
Islamisten hatten am 7. Januar 2015 die Redaktion von „Charlie Hebdo“ gestürmt und das Feuer eröffnet. Ein Komplize der beiden Attentäter erschoss zwei Tage nach der Attacke bei einer Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt vier Menschen. Die Anschläge mit insgesamt 17 Toten hatten weltweit für Entsetzen gesorgt. Unter dem Motto „Je suis Charlie“ folgte eine internationale Welle der Solidarität.
Bild: AFP/Getty Images/T. Samson
Brand in koscherem Lebensmittelladen
2018- Am dritten Jahrestag des "Charlie Hebdo"- Anschlags ging ein Supermarkt für koschere Lebensmittel im Einkaufszentrum von Créteil in Flammen auf. Im gleichen Monat überfielen Jugendliche einen achtjährigen Jungen mit Kippa in der Pariser Vorstadt Sarcelles.
Bild: Getty Images/AFP/A. Jocard
Holocaust-Überlebende ermordet
Die 85-jährige Jüdin Mireille Knoll war laut einer Mitteilung des jüdischen Dachverbands CRIF im März 2018 tot in ihrer verbrannten Wohnung in Paris aufgefunden worden. Laut einem Bericht der Zeitung "Le Parisien" waren an der Leiche des Opfers Spuren von Messerstichen gefunden worden. Bereits ein Jahr zuvor war - ebenfalls in Paris - eine 65-jährige jüdische pensionierte Lehrerin ermordet worden.
Bild: Getty Images/AFP/F. Guiollot
Schmierereien am Schaufenster
In diesem Monat sprayten Randalierer das Wort "Juden" auf das Schaufenster einer jüdischen Bäckerei in Paris. In Frankreich lebt mit rund 500.000 Menschen die drittgrößte jüdische Gemeinde der Welt - nach Israel und den USA. Rund 95 Prozent der französischen Juden bezeichneten den Antisemitismus im Land als "großes" oder "sehr großes Problem".
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
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Antisemitismus nicht mehr nur von rechts
"Israel erwähne ich so gut wie nie oder dass ich Jüdin bin", erzählt sie. "Man kann nie sicher sein, wen man vor sich hat". Ihr habe man auch schon hinterhergerufen: "Geh doch zurück nach Tel Aviv!" Ihr Sohn ist vor vier Jahren nach Israel ausgewandert. Nach den Attentaten 2015 im jüdischen Supermarkt L'Hyper-Karcher, nach dem Anschlag auf das Redaktionsbüro der Statirezeitschrift Charlie Hebdo, haben laut Statistik des CRIF innerhalb eines Jahres über 7000 Franzosen jüdischen Glaubens das Land verlassen.
Antisemitismus in Frankreich ist eine Form des Rassismus, die wir seit jeher beobachten, sagt die Soziologin Nonna Mayer. Die antisemitischen Straftaten seien vielfältig: Sachbeschädigung, körperliche Gewalt sowie Bedrohungen und Beschimpfungen jüdischer Mitbürger gehörten dazu, so die Wissenschaftlerin im Gespräch mit der DW.
Juden als Feindbild einer nicht erreichbaren Elite
"Er ist nicht urplötzlich stärker aufgetaucht. Neu ist, dass er nicht mehr nur von der rechtsextremen Seite kommt." Mayer stellt in ihren Studien im Institut des Sciences Politiques (Sciences Po) einen neuen Hass gegen Israel fest, der auch aus der linksextremistischen, pro-palästinensischen Seite komme.
Dazu beobachte sie einen Anstieg an Anfeindungen, der wiederum aus dem Milieu des radikalen Islams stamme. Die Migrationswelle 2015 als Ursache für mehr Judenhass sieht sie jedoch nicht bestätigt. Es seien Jugendliche mit Migrationshintergrund, die oft nichts über den Konflikt im Nahen Osten wüssten, jüdische Mitbürger jedoch als Teil einer für sie nicht erreichbaren Elite anfeindeten.
Gelbwesten-Bewegung nährt Boden der Feindseligkeit
In ganz Europa entwickelten sich die Zahlen bedenklich, so die Soziologin. Dennoch sei Frankreich derzeit besonders verwundbar. Die Gelbwesten-Bewegung nährt den Boden der Feindseligkeit. Sie sei Ausdruck von Verbitterung, sozialer Ungerechtigkeit und gegen Eliten jeder Art gerichtet. Das Feindbild Nummer eins: Präsident Macron. Als Ex-Banker bei Rothschild sähen viele Gelbwesten auch bei ihm die Nähe zu Geld, Macht und Juden. Antisemitismus, das habe immer weniger mit Religion zu tun, so Mayer.
Ilan Shalom tritt aus der Synagoge heraus in die Sonne. Kippa auf dem Kopf. "Das habe ich schon immer gemacht, ich will mich nicht verstecken und das werde ich auch nie." Seit er Vater ist, kommt er dennoch ins Grübeln. "Ich weiß nicht, ob ich meinen Söhnen wirklich raten kann, ihr Jüdisch-Sein zu zeigen". Für mich habe ich diese Frage beantwortet. Für meine Kinder nicht. "Vielleicht ist es zu gefährlich. Davor habe ich Angst."