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Politik

Geheimdienstexperte: Türkei schürt ein Klima der Angst

Sabrina Pabst
28. März 2017

Telefonate und Kameraüberwachung: Der türkische Geheimdienst agiert in Deutschland immer aggressiver, meint Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom im DW-Interview.

Deutschland Straßenszene Keupstraße
Bild: picture alliance/dpa/R. Weihrauch

DW: Die Spitzelaffären des türkischen Nationalen Nachrichtendienstes (Millî İstihbarat Teşkilâtı, kurz: MİT) in Deutschland weiten sich aus. Jetzt wurde bekannt, dass 300 Einzelpersonen und 200 Schulen und Vereine überwacht werden. Ist das ein neues Phänomen? 

Erich Schmidt-Eenboom: Dass oppositionelle Auslandstürken in Deutschland vom türkischen Geheimdienst überwacht werden, hat eine lange Tradition. Die erste Zielgruppe war die kurdische Arbeiterpartei PKK. Ab 2013 haben wir erlebt, dass die Unterstützer der Proteste auf dem Gezi-Platz in Istanbul ins Visier der Nachrichtendienste gerieten, nach dem vermeintlichen Putsch im Juli 2016 wurden alle Gülen-Anhänger genau beobachtet. Inzwischen wird jede Opposition gegen Erdogan vom türkischen Nachrichtendienst in Deutschland richtig intensiv überwacht. 400 hauptamtliche Mitarbeiter sind eine ganze Menge. Viel bedrohlicher ist aber die immer aggressiver werdende Rekrutierungspraxis. 

Wer spitzelt alles im Auftrag der türkischen Regierung?  

Es gibt Agenten. Die sitzen traditionell in türkischen Reisebüros, um eine Reiseüberwachung zu machen. Oder in Banken, um Geldtransfers aus der Bundesrepublik in die Türkei ins Visier zu nehmen. Sie sitzen vor allem in den Moschee-Vereinen und neuerdings erleben wir, dass es selbst über Schulen den Versuch gibt, das ganze Spektrum der Auslandstürken in den Dienst des MİT zu stellen. Da werden sogar Eltern gebeten über andere Eltern Informationen zu sammeln. Das ist ein komplettes Spitzelsystem, das immer ausgeprägter und immer aggressiver wird. Es geht ja nicht mehr nur um die Beobachtung der Opposition, sondern es geht um ein wachsendes Ausmaß an Repressionen. 

Die Listen wurden vom türkischen Geheimdienst-Chef an den BND-Chef überreicht mit der Bitte um Unterstützung. Die Bundesregierung, der Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und letztlich die Polizeibehörden der Länder haben die Liste erhalten. Sie sprechen die Betroffenen an und warnen davor, in die Türkei zu reisen oder konsularischen Boden zu betreten. Ist damit nicht das Gegenteil von dem passiert, was der MİT wollte? 

Nein. Der MİT hat sein Ziel, ein Klima der Angst zu schüren, mit diesem Vorstoß wunderbar erreicht, denn er hat nie ernsthaft geglaubt, dass der Bundesnachrichtendienst jetzt diese Liste mit 300 angeblich Verdächtigen auch noch unterfüttern oder bestätigen würde. Jetzt haben Menschen Angst, für den Urlaub in die Türkei, ihr Herkunftsland, zu reisen. Sie haben Angst, intensive Kontakte zu Menschen zu pflegen, die offen für die Gülen-Bewegung eintreten. Der BND-Chef hat ja sehr deutlich gemacht: nach Erkenntnissen des BND ist es eine türkische Mär, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putsch steht. Es gibt westliche Nachrichtendienste, die einen Schritt weiter gehen und sagen, der ganze Putsch sei nur ein Pseudo-Putsch und inszeniert, damit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Legitimation hat, aggressiv vorzugehen. 

Erich Schmidt-Eenboom, GeheimdienstexperteBild: imago stock&people

8000 Mitarbeiter, davon 800 in der EU: Wie ordnen Sie die Zusammenarbeit des MİT mit anderen westlichen Geheimdiensten ein? 

Es gab eine sehr intensive Kooperation des BND mit dem MİT ab Ende der 1950er Jahre. Das betraf die gemeinsame funk-elektronische Aufklärung am Schwarzen Meer Richtung UdSSR, aber auch sonstigen Informationsaustausch. Die Beziehungen waren so eng, dass die CIA nach der Besetzung des türkischen Teils Zyperns die Geheimdienstbeziehung zum MİT streckenweise abgebrochen hatte, der BND nicht. Der BND hat 1981 sogar die türkischen Nachrichtendienste mit modernster Technik zum Ausspionieren der Opposition versorgt. 

Wie kam es zu der Wende?

Die türkischen Nachrichtendienste haben bis Sommer 2014 den sogenannten "Islamischen Staat" (IS) massiv unterstützt. Eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages spricht wörtlich von einer Dschihadisten-Autobahn, die die Türkei ermöglicht hat. Sie hatte das Ziel, den IS so stark zu machen, dass das System in Damaskus gestürzt wird. Erst auf massiven Druck des Westens hin wurde diese Unterstützung herunter gefahren - mit dem Resultat, dass sich der IS mit Attentaten in der Türkei gegen die Regierung gestellt hat. In dieser Phase gab es erste Brüche in der geheimdienstlichen Zusammenarbeit. Deutsche und französische Dienste haben Reisekontroll-Anfragen an die Türken gestellt. Wenn ein Gefährder - geboren in Deutschland und hier radikalisiert - den Weg in die Türkei mit einem One-Way-Ticket antrat, wurde bei den Türken angefragt, ob sie diesen bei der Landung beobachten könnten. In der Phase, als der MİT den IS unterstützt hat, gab es auf solche Fragen keine Antworten mehr. 

Dann kam das Attentat auf die drei Kurdinnen in Paris. Der Attentäter verstarb in der Haft und es kam nie zu einem öffentlichen Prozess mit entsprechenden Beweisen. Ein Freund von mir konnte Einblick in die Anklageschrift der französischen Staatsanwaltschaft nehmen. Aus der geht die Täterschaft des MİT eindeutig hervor. Dass es jetzt auch noch Mordanschläge auf europäischem Boden gibt, wollten sich europäische Dienste nicht bieten lassen. Dann der Fall des kurdischen Journalisten dazu, den der MİT in Hamburg und Bremen eingespeist hatte. Seitdem ist das Verhältnis zwischen deutschen und türkischen Nachrichtendiensten äußerst abgekühlt. Auch deshalb, weil Erdogans Geheimdienstchef enge Beziehungen zum russischen Nachrichtendienst pflegt. Das heißt, die Türkei betreibt nachrichtendienstlich inzwischen eine Schaukelpolitik zwischen den NATO-Staaten und Moskau.  

Erich Schmidt-Eenboom ist Geheimdienstforscher und Vorsitzender des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V.. Als Publizist verfasste er eine Analyse über den türkischen Geheimdienst. 

Das Gespräch führte Sabrina Pabst.