Geheime Fluchtrouten: Wie Nazis nach Argentinien kamen
13. Mai 2025
Auf der offiziellen Website des argentinischen Nationalarchivs sind neue Einblicke möglich: "Hier klicken, um auf Dokumente über den Nationalsozialismus und geheime Präsidialdekrete zuzugreifen", heißt es dort. Der Hinweis führt zu einem digitalen Archiv, das eines der düstersten Kapitel der Zeitgeschichte beleuchtet.
"Auf dieser Seite finden Sie Dokumente zur Ankunft und den Aktivitäten hochrangiger Nazis in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg", so die offizielle Ankündigung. Über 1850 digitalisierte Originaldokumente stehen nun der Öffentlichkeit zur Verfügung - in hoher Qualität und frei zugänglich.
Migration, Fluchthilfe und falsche Identitäten
"Der historische Wert dieses Materials ist enorm", erklärt der argentinische Autor und Forscher Julio Mutti im Gespräch mit der DW. Mutti untersucht seit Jahren die Verbindungen zwischen Argentinien und dem Nationalsozialismus. "Es handelt sich um umfangreiche Akten - darunter Migrationsdaten und Polizeiberichte zu Figuren wie Mengele oder Eichmann", sagt er.
Die Dokumente enthalten Informationen über Josef Mengele, den berüchtigten SS-Arzt von Auschwitz, der für seine grausamen Menschenversuche bekannt ist, und über Adolf Eichmann, einen der Hauptorganisatoren der "Endlösung" und zentralen Planer des Holocaust. Beide tauchten nach dem Krieg in Argentinien unter.
Streng genommen handelt es sich nicht um neu freigegebene Daten - viele wurden bereits 1992 unter Präsident Carlos Menem deklassifiziert. Aber erst jetzt sind sie digitalisiert und öffentlich zugänglich. "Dass diese Akten nun für jeden einsehbar sind, ist ein großer Fortschritt. Neue Hinweise könnten dadurch zum Vorschein kommen", betont der Journalist und Autor Facundo Di Génova im DW-Interview.
Geheime Akten und eine neue Spur: Wer zahlte für die Flucht?
Besonders brisant ist jedoch eine weitere, bislang unveröffentlichte Dokumentensammlung, die derzeit auf Anfrage an das Simon-Wiesenthal-Zentrum übergeben wird. Die Organisation dokumentiert weltweit die Opfer des Holocaust und verfolgt NS-Kriegsverbrecher.
"Wir forschen gezielt zur Finanzierung der Flucht von Nazis nach Argentinien", erklärt Ariel Gelblung, Direktor für Lateinamerika des Wiesenthal-Zentrums, gegenüber DW.
Im Fokus der aktuellen Untersuchung steht unter anderem die Rolle der Bank Credit Suisse - heute Teil der UBS - und ihre Verbindungen zum NS-Regime. Ziel ist es, die mögliche Beteiligung der Bank an der Finanzierung der sogenannten "Rattenlinie" aufzuklären - jener Fluchtrouten, über die sich zahlreiche Kriegsverbrecher nach Südamerika absetzten.
"Wir verfolgen eine Spur, die bisher niemand untersucht hat", so Gelblung. "Wir analysieren verdächtige Finanztransaktionen, die als diplomatische Missionen oder buchhalterische Einträge des Zentralbankarchivs getarnt waren."
"Heureka"-Moment in den Archiven
Die entscheidenden Hinweise befanden sich offenbar nicht in den üblichen Archiven. "Viele der Dokumente lagen in Bereichen des Staates, die bisher nicht im Zusammenhang mit den Nazi-Fluchten betrachtet wurden", berichtet Gelblung. Erst nach einem Treffen mit Präsident Javier Milei wurde beschlossen, auch diese bisher unter Verschluss gehaltenen Akten freizugeben.
So erhielt das Wiesenthal-Zentrum Zugang zu Unterlagen aus dem Innen-, Verteidigungs- und Außenministerium sowie der Bibliothek der argentinischen Zentralbank.
Besondere Aufmerksamkeit gilt aktuell geheimen Protokollen der staatlichen Rüstungsfirma Fabricaciones Militares. Laut Mutti belegen diese Akten aus den Jahren 1945 bis 1948, dass das Unternehmen Personal in Europa anwarb und Material einkaufte.
Öffentliche Gelder für Nazi-Fluchthilfe?
"Ein weiterer Baustein in der Kette der Komplizenschaft wäre, wenn sich zeigt, dass diese Gelder nicht für legitime Rüstungszwecke, sondern für die Fluchthilfe verwendet wurden", so Mutti. "Das würde den Einsatz öffentlicher Mittel zur Unterstützung von Kriegsverbrechern belegen."
Für Autor Facundo Di Génova ist die Öffnung der Archive ein überfälliger Schritt: "Es gab immer den Verdacht, dass der argentinische Staat mehr wusste, als er zugegeben hat", sagt er. "Diese neue Transparenz ist ein Signal - aber es braucht noch viel mehr Offenlegung."
Geduldige Analyse mit möglicher Tragweite
Die vom Wiesenthal-Zentrum erhaltenen Akten werden derzeit von einem internationalen Team in den USA und Europa untersucht. Die Ergebnisse sollen im kommenden Jahr veröffentlicht werden.
Gelblung zeigt sich überzeugt: "Wir glauben, dass es Verantwortlichkeiten gibt, die bis heute nicht benannt wurden." Für ihn ist diese Arbeit auch persönlich wichtig - als Enkel europäischer Immigranten in Argentinien trägt er zur historischen Aufarbeitung bei. "Es ist eine späte, aber wichtige Form der Gerechtigkeit - für die Opfer des Holocaust."