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Politik

Gekommen für ein Jahr, das nicht endet

Marina Martinovic
12. Oktober 2018

Vor 50 Jahren unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen mit dem damaligen Jugoslawien. Viele jugoslawische Gastarbeiter kamen eigentlich nur für ein Jahr - und blieben ein Leben lang.

Deutschland Frankfurt Gastarbeiter auf dem Weg in die Weihnachtsferien nach Jugoslawien
Jugoslawische Gastarbeiter auf dem Hauptbahnhof in FrankfurtBild: picture-alliance/dpa

Überall war Stacheldraht, standen Polizisten mit Maschinengewehren und warfen strenge Blicke auf die Neuankömmlinge. In ihren Uniformen und mit den Schäferhunden an ihrer Seite erinnerten sie an das Wachpersonal eines Lagers im Zweiten Weltkrieg. So schildert die damals erst 19 Jahre alte Bosiljka Schedlich heute ihre ersten Eindrücke, als sie vor einem halben Jahrhundert als sogenannte "Gastarbeiterin" nach Berlin kam. Ein Flugzeug brachte die jugoslawischen Gastarbeiter zuerst in den Ostteil der Stadt, um sie dann mit einem Bus über die Grenze nach Westberlin in ihre Unterkünfte zu bringen, erinnert sie sich noch genau. 

In Westberlin angekommen, sah Schedlich überall weitere Kriegswunden: "Ich sah die Spuren des Krieges auch an den Gesichtern vieler einsamer Frauen, die mit Hunden alleine spazieren gingen. Ich sah sie auch an fehlenden Armen und Beinen vieler Männer, die im Rollstuhl durch die Stadt geschoben wurden und ich habe mich dabei gefragt: Wo haben sie den Krieg verbracht?", sagt die heute 69-Jährige.

Bosiljka Schedlich kam als Jugendliche nach Deutschland - und blieb ein Leben langBild: privat

Im Souterrain des Wohnheimes, wo Bosiljka Schedlich mit etwa 1.200 anderen JugoslawInnen untergebracht war, wohnten vertriebene Deutsche aus Ostpreußen und Schlesien. "Für mich war es eine Begegnung mit der Vergangenheit, die meine Eltern erlebt haben." Doch an die Vergangenheit wollte sie nicht allzu viele Gedanken verschwenden. Denn sie war wegen ihrer Zukunft nach Deutschland gekommen, um ein paar D-Mark für ihr angestrebtes Studium zu verdienen. "Für ein Jahr bin ich gekommen, aber dieses Jahr geht einfach nicht zu Ende", scherzt die mittlerweie pensionierte Gastarbeiterin, die gerade ihre Ferien in einem kleinen heruntergekommenen Bauernhäuschen auf der kroatischen Insel Šipan verbringt.

Teuere Deutschkurse

Das Aufpeppen dieses Häuschens mitten auf der kleinen Insel bedeutet für sie ein Stück weit auch, zu ihren Wurzeln zurückzukehren, denn die Dalmatinerin wurde als Bosiljka Grgurević in der adriatischen Küstenstadt Split geboren. Als Kind lebte sie in einem Dorf im dalmatinischen Hinterland, und als der Weg mit dem Unterzeichnen des Anwerbeabkommens freigemacht wurde, entschied sie sich nach ihrem Abitur, ihr Glück als Gastarbeiterin in Deutschland zu versuchen.

Sie arbeitete zunächst in einer Fabrik, doch nur ein halbes Jahr später wurde sie Dolmetscherin in ihrem Frauenwohnheim. Bis zu diesem Zeitpunkt unterscheidet sich ihre Gastarbeitergeschichte kaum von denen vieler anderer aus dem damaligen Jugoslawien.

Hunderttausende kamen, um so schnell wie möglich Geld zu verdienen - und wenn es nur für ein Motorrad warBild: M. Gutic

Bosiljka Schedlich schlug dann aber einen anderen Weg ein. Sie gab die Hälfte ihres Lohnes für Deutschkurse aus, bekam bessere Jobs und begann ein Studium an der FU Berlin. "Das Leben hatte mich und ich dachte überhaupt nicht an eine Rückkehr."

Vorübergehend - auf ewig

Viele ihrer Landsleute blieben jedoch im "Gastarbeiter-Modus" stecken. "Ihr Ziel war nicht die Auswanderung aus Jugoslawien", erklärt der Belgrader Historiker Vladimir Ivanović von der Berliner Humboldt-Universität. "Ihr Ziel war tatsächlich, in kürzestmöglicher Zeit Geld zu verdienen, mit welchem sie existenzielle Probleme in ihrer Heimat lösen und etwa ihre Häuser und Wohnungen bezahlen wollten. Manche von ihnen sind einfach weggegangen, um sich danach ein Motorrad kaufen zu können, um damit etwa in Split an der Flaniermeile angeben zu können. Die Motive waren, also, unterschiedlich. Aber sie alle sind eigentlich nur vorübergehend zum Arbeiten nach Deutschland gegangen."

Josip Juratović: zuerst Gastarbeiter, dann Migrant und heute Deutscher mit MigrationshintergrundBild: Reiner Pfisterer

In Jugoslawien selbst waren die Jobchancen deutlich geringer. Die damalige jugoslawische Regierung hatte sich nicht zuletzt deshalb auf das Anwerbeabkommen mit der BRD geeinigt, weil sie selbst mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte, sagt Ivanović. Dem Anwerbeabkommen hatte jedoch zuerst die Aufnahme diplomatischer Beziehungen beider Länder im Januar 1968 vorausgehen müssen.

Viele Kinder blieben bei den Großeltern zurück

Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Josip Juratović bestätigt, dass die Überzeugung, nur vorübergehend in der Bundesrepublik zu sein, in der ersten Gastarbeitergeneration tief verankert war. "Die Gastarbeiter, die damals nach Deutschland kamen, haben sich auch selbst als 'Gast'-Arbeiter verstanden. Das heißt, die erste Generation hat gedacht, man arbeitet ein paar Jahre, spart etwas Geld zusammen und geht wieder zurück".

Juratović ist selbst ehemaliger Gastarbeiter. Seine Mutter Katarina war ebenfalls unter den Gastarbeiterinnen, die 1968 aus Jugoslawien nach Deutschland kamen. Sie wurde für die Arbeit in einer Konservenfabrik angeworben und ließ ihren Sohn bei den Großeltern zurück - das Schicksal vieler Familien damals. Nachdem er die Schule beendet hatte, folgte er ihr nach Deutschland und machte in der Nähe von Heilbronn eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Er arbeitete danach über 20 Jahre am Fließband, bevor er seine politische Karriere begann. "Ich kam als Gastarbeiter, wurde dann Migrant und heute bin ich Deutscher mit Migrationshintergrund", sagt Juratović zu seiner Migrationsgeschichte.

Es gibt keine Rückkehr

Dieser Satz ist bezeichnend für viele der über 1,5 Millionen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die noch heute in Deutschland leben. Den Gastarbeitern wurde irgendwann in den 80-er Jahren klar, dass es keine Rückkehr mehr gebe, so Juratović, schon allein wegen ihrer Kinder.

Diese gingen inzwischen hierzulande in die Schule, sprachen sehr gut Deutsch und entfernten sich immer mehr von der Gesellschaft, aus der ihre Eltern kamen. Die 'alte Heimat' kannten sie ja sowieso nur aus den Sommerferien. "Damals reifte die Erkenntnis, dass es kein Zurück mehr gibt. Zur Gewissheit wurde sie spätestens mit dem Krieg in Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahren. Vielen wurde klar: Wir bleiben hier."

Die "unauffälligen" Jugoslawen

Also standen die Jugoslawen fortan vor einer neuen Herausforderung: der dauerhaften Integration. Ivanovic zufolge habe diese Integration weitgehend problemlos stattgefunden. Denn die ex-jugoslawische Community unterscheide sich kulturell nicht allzu sehr von den Deutschen, erklärt der Historiker. Es handelt sich um eine Community, die weitestgehend gut Deutsch spricht, die am gesellschaftlichen Leben teilnimmt und in diesem Kontext kaum als eigene Volksgruppe sichtbar wird". Bosiljka Schedlich  hingegen nennt es eher eine "Scheinintegration": Man blieb meistens unter sich, entweder in den vom Vaterland organisierten jugoslawischen Clubs oder innerhalb der von der Kirche gegründeten Strukturen, wie etwa der "Kroatischen Katholischen Missionen". Für die erste, im Alter bereits fortgeschrittene Generation war es dann schwer, Deutsch zu lernen. Aber ihre Kinder und Enkel werden sehr oft und auch zu Recht als sehr gut integriert wahrgenommen.

Die Frage nach der Heimat

Das habe zum Teil mit der Arbeitsmoral der Gastarbeiter aus Ex-Jugoslawien zu tun, meint Bosiljka Schedlich. "Die meisten Jugoslawen haben von Anfang an sehr großen Wert darauf gelegt, dass ihre Kinder immer die besten oder mindestens sehr gute Schüler sein mussten - so wie sie selbst als sehr gute Arbeiter galten." Das habe dazu geführt, dass die junge Generation meist eine gute Ausbildung, viele auch eine Universitätsausbildung bekommen hätten.

Nach "Hause" ging man in den Ferien - zum Beispiel zu WeihnachtenBild: picture-alliance/dpa/H. Schlosser

"Und sie sind diejenigen, die bewusst in Deutschland leben", sagt Schedlich. Viele von ihnen würden sogar in der Politik mitreden wollen. "Sie sind zwar nach wie vor traditionell durch ihre Familien an die heimatlichen Gruppen angebunden, aber sie sind auch vernetzt in der deutschen Community."

Aber fühlen sie sich auch hier zuhause? Was ist für sie "Heimat"? Bosiljka Schedlich hat darauf eine ganz einfache Antwort: Ihre "Herkunftsheimat" und ihre deutsche Heimat seien beide ihr Zuhause. Die Welt von heute sei eben zusammengewachsen: "Ich bin hier jetzt gerade auf Šipan genauso zu Hause wie in Berlin-Frohnau. Das kann ich nicht trennen."

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