Gelähmte Bundesregierung gefährdet Wirtschaft
7. November 2024"Wir haben ein Problem", hatte SPD-Co-Chef Lars Klingbeil am vergangenen Sonntag im Ersten Deutschen Fernsehen (ARD) mit Blick auf die kriselnde Wirtschaft eingeräumt. Bei vielen Firmen sei etwas ins Rutschen geraten, weswegen jetzt gehandelt werden müsse. Das damals von Finanzminister Christian Lindner (FDP) vorgelegte Papier sei aber teilweise nichts als "neoliberale Ideologie".
Inzwischen - seit dem Mittwochabend (06.11.2024) - ist die Ampelkoalition Geschichte, Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Bundespräsidenten gebeten, Finanzminister Lindner zu entlassen, andere FDP-Minister zogen sich darauf aus dem Kabinett zurück.
Lindner hatte unter anderem ein Regulierungsmoratorium und Steuersenkungen durchsetzen wollen. So sollte der Solidaritätszuschlag für alle abgeschafft und die Klima-Ziele auf 2050 verschoben werden. Vor allem: Die Schuldenbremse sollte nicht ausgesetzt werden. Und neue Schuldentöpfe lehnte der FDP-Chef ab. Er beabsichtigte außerdem, den Klimafonds KTF aufzulösen. Alles Vorhaben, die die anderen Koalitionäre nicht mittragen wollten.
Der designierte Grünen-Co-Chef Felix Banaszak hatte die Lindner-Vorschläge in der ARD so kommentiert: "Dieses ganze Papier atmet den Geist von: Ich will eigentlich nicht mehr." Vereinbarte Beschlüsse jetzt wieder abwickeln zu wollen, sei das Gegenteil von Planungssicherheit.
Wirtschaftspolitik als "Standortrisiko"
Derweil brennen vielen Wirtschaftsvertretern die Probleme auf den Nägeln. So etwa muss beispielsweise der Automobilzulieferer Bosch seine Aussichten für 2024 anpassen und schließt einen weiteren Stellenabbau über die bereits angekündigten Jobverluste von 7000 Mitarbeitern nicht aus.
Bosch-Vorstandschef Stefan Hartung forderte in der Zeitung "Tagesspiegel" am vergangenen Donnerstag die Bundesregierung auf, ihren Koalitionsstreit zu beenden und die Industrie rasch zu unterstützen: "Wir müssen jetzt vom Reden ins Handeln kommen und noch vor der Bundestagswahl konkrete Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Wirtschaft auf kurze und lange Sicht zu stärken."
Die Stiftung Familienunternehmen kritisiert die "Wirtschaftsgipfel" der Ampelkoalition heftig. "Das größte Standortrisiko für Deutschland ist eine handlungsunfähige Regierung", sagte der Chef der Stiftung Familienunternehmen, Rainer Kirchdörfer, der "Ausburger Allgemeinen" von Mittwoch. "Gesprächsrunden helfen nicht weiter, wir brauchen angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage dringend Entscheidungen der Politik."
Der Ökonom Henning Vöpel, Vorstandschef beim Centrum für Europäische Politik (cep), sagte der DW, es sei der Ampelkoalition "nicht gelungen, die deutsche Wirtschaft strukturell wieder auf Wachstumskurs zu bringen". Sie habe unentschlossen und mutlos agiert: "Letztlich ist die Ampel an ihrem eigenen Anspruch gescheitert, nämlich daran, dass sie keinen gemeinsamen Fortschrittsbegriff entwickelt hat. Alle drei Parteien sind in ihre parteipolitischen Positionen zurückgefallen."
Denkbar ungünstiger Zeitpunkt
In den USA hat Donald Trump das Mandat für eine zweite Amtszeit gewonnen. Mit ihm kommen Herausforderungen in der Sicherheitspolitik, der Handels- und Klimapolitik sowie bei der Unterstützung der Ukraine bei der Abwehr des russischen Angriffskrieges auf die Welt zu.
Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Krisen hatte Robert Habeck (Grüne) gewarnt: "Dies ist die schlechteste Zeit, dass die Regierung scheitert." Nach dem Ampel-Aus sagte Habeck, das Ende der Ampelkoalition fühle sich "falsch und nicht richtig" an: "Geradezu tragisch an einem Tag wie diesem, wo Deutschland in Europa Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit zeigen muss."
Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert dazu den ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski, der die aktuelle Lage ebenfalls sehr kritisch einschätzt. Deutschland sei schlechter vorbereitet als beim ersten Wahlsieg Trumps 2016: "Nach vier Jahren Stagnation und strukturellen Schwächen ist Deutschland nicht nur der 'kranke Mann Europas', sondern auch verwundbarer als vor acht Jahren."
Schnelle Medizin nicht immer hilfreich
Einige Beobachter halten Deutschland für einen wirtschaftlichen Notfallpatienten. Aber welche Rolle spielt dabei die Politik und ist die globale Wirtschaftslage nicht viel wirkmächtiger? Die Großwetterlage sei für alle Länder die gleiche, meint Ökonom Henning Vöpel dazu. Doch auch von ihr abgesehen sei "das Wachstum in Deutschland seit vielen Jahren geringer als in vergleichbaren Ländern. Das spricht dafür, dass nicht die schwache Weltwirtschaft dafür verantwortlich ist, sondern spezifische strukturelle Ursachen. Es wäre die Aufgabe der Regierung, diese Ursachen zu identifizieren und zu adressieren."
Politische Maßnahmen, so der cep-Ökonom, brauchten zwar immer Zeit, bis sie ihre Wirkung entfalten. Aber es gäbe auch "Maßnahmen, die schon durch ihre Ankündigung eine positive Wirkung haben. Gerade die jetzt so wichtigen Investitionen reagieren sehr sensitiv. Insofern können Maßnahmen, die auf die Verbesserung der Erwartungen und Standortbedingungen ausgerichtet sind, sehr wohl auch kurzfristig wirken." Eine Subventionierung von Energiepreisen oder Netzentgelten könne die Industrie zwar kurzfristig entlasten. Aber sie "löst das Problem nicht und wirkt daher auch nicht strukturell."
Nicht einfach "Milliarden rausschmeißen"
Als aktuell dringlichste Aufgaben nennt Vöpel der DW vier Punkte: "Erstens die Stabilisierung der Energiewende - sie ist zentral für die Verbindung von Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit. Zweitens der Bürokratieabbau - eine schnell wirksame Entlastung, die kein Geld kostet. Drittens die Umsetzung der Digitalisierung - sie birgt erhebliche Produktivitätspotenziale; und viertens steuerliche Investitionsanreize.
Martin Gornig, Forschungsdirektor Industriepolitik beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, fordert ebenfalls "systemische Veränderungen" ein. Und zwar nicht im nationalen Alleingang, sondern im kontinentalen Kontext. Im DW-Interview sagte er in der vergangenen Woche: "Deutschland ist die Industrienation in Europa und ist in Europa verwurzelt." Es könne daher nur eine "europäische Industriepolitik geben".
Gefragt nach kurzfristig erforderlichen Maßnahmen der Bundesregierung sagte er, man müsse sich vor allem vor Aktionismus hüten und nicht einfach "Milliarden rausschmeißen, um in irgendwas zu investieren". Schließlich sei noch Zeit: "Wir stehen noch nicht am Abgrund." Nötig sei jetzt "eine ruhige Politik, wo die Unternehmen und die Konsumenten den Eindruck haben, sie wüssten, was Morgen passiert."