Ai Weiwei provokant: "Manifest ohne Grenzen"
6. November 2019Die Voraussetzung klang vielversprechend: Ai Weiwei wollte seine Diskussionsbeiträge endlich mal auf Chinesisch formulieren können, darum hatte er am Vortag der Berliner Buchvorstellung gebeten. Die erfahrene Dolmetscherin Jing Möll wurde engagiert, um die zu erwartenden tiefsinnigen Äußerungen des Künstlers adäquat ins Deutsche zu bringen.
Doch dann saß sie in der Berliner Kulturbrauerei auf dem Podium zwischen Ai Weiwei und dem ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, und war zur Statistin degradiert. Die China-Expertin und frühere langjährige Korrespondentin Gisela Mahlmann stellte als Moderatorin ihre Fragen gleich auf Englisch - und der chinesische Installationskünstler blieb bei seinen Antworten in dieser Verkehrssprache.
Ob es daran lag, dass Mahlmanns Tiefenbohrungen nicht wirklich Neues zutage förderten? Ai Weiweis bekannte Themen sind natürlich auch die seines soeben erschienenen "Manifest ohne Grenzen". Der grafisch anspruchsvoll gestaltete Band spricht vom Dasein zwischen Welten, dem permanenten Gefühl des Fremdseins, über die weltweite Flüchtlingsbewegung und entschwindende Humanität.
Ai versteht das Buch als eine Möglichkeit, all die Fragen, die ihm in hunderten Interviews von Journalisten oder Experten gestellt wurden, vielschichtig und gedankenvoll zu beantworten. Und als den richtigen Ort, um seine eigenen Fragen knapp zu formulieren: "Was ist Kunst?" Nichts anderes als "ein Synonym für überlieferte Erfahrung", nach seiner Definition. Ein Manifest eben.
Zu wenig offene Gespräche
Ai Weiwei kam 2015 nach Deutschland, ein Publikumsliebling seit seiner "Fairytale" Inszenierung 2007 auf der Documeta 12. Vier Jahre blieb er in Berlin, ehe er der deutschen Hauptstadt zugunsten des britischen Cambridge den Rücken kehrte. Seiner Enttäuschung mit der Demokratie, wie sie nach seinem Verständnis in Deutschland gelebt wird, machte er vor seinem Abgang in einem Interview mit der Zeitung "Welt" Luft. Bei aller Weltoffenheit, wie sie gerade in Berlin oberflächlich gelebt werde, betreibe man im Grunde doch nur Nabelschau.
Das Berliner Publikum war gespannt zu erfahren, wie Ai Weiwei sein Verhältnis zu Deutschland nach seinem Wegzug sieht. Würde er das Positive betonen? Von seiner Arbeit mit den Masterstudenten der Universität der Künste sprechen? Dem pulsierenden intellektuellen und künstlerischen Leben der Stadt? Das Gegenteil ist der Fall.
Ai Weiwei beklagt einen Mangel an Gelegenheiten zur Einmischung: "In den vier Jahren, die ich in Berlin verbracht habe, hatte ich nur selten Gelegenheit, eingehend mit Journalisten oder Politikern zu sprechen." Dabei gebe es so viele dringende Themen: die Flüchtlingsituation, das Verhältnis zu China, was derzeit in Hongkong geschehe. "Du wirst als Künstler respektiert, aber das gibt dir nicht das Recht, über deutsche Angelegenheiten zu sprechen, über die Situation der Flüchtlinge oder das Verhältnis zu China." Deutschland und China, das sei ein Flirt auf Dauer - warum auch immer: "I don't know why Germans have such a nice honeymoon with China."
"Deutsche befolgen Regeln, Unbekanntes macht ihnen Angst"
Die über den Köpfen des Publikums schwebenden Fragezeichen wurden nicht kleiner. Zustimmung war spürbar, als Ai Weiwei von seinem zentralen Thema und Anliegen sprach und erneut mehr Unterstützung für Flüchtlinge einforderte, mehr Verständnis und vor allem mehr Humanität.
Dass sich der berühmte chinesische Künstler mit den Flüchtenden der Welt identifiziert, hat auch biografische Gründe: Er war kaum geboren, als sein Vater, der berühmte Dichter und Kulturfunktionär Ai Qing, 1958 in Ungnade fiel und in die damals noch völlig unterentwickelte Provinz Xinjiang verbannt wurde. Zwanzig Jahre lebte die Familie ohne Bezüge zum sehr fernen Peking, der Vater mit Publikationsverbot, bis er 1978 rehabilitiert wurde. Schon als Kind sei er ein Flüchtling im eigenen Land gewesen, sagt Ai.
Die Frage, warum Deutschland, das doch so freundlich gewesen sei, ihn selbst und so viele andere Flüchtlinge aufzunehmen, sich so radikal von der eigenen Empathie entfremdet habe, beschäftigt den Konzeptkünstler.
Er diagnostiziert Kaltherzigkeit, auch wenn er sie nicht explizit so nennt. Deutschen gälten, generell gesprochen, Ordnung und Regelbefolgung mehr als Offenherzigkeit, die Menschen seien eingeschüchtert, Unbekanntes mache ihnen Angst. "Ich kann immer noch nicht verstehen, warum die Deutschen ihrer Menschenfreundlichkeit nicht mehr Ausdruck geben."
Der Provokateur bleibt provokant
Liu Xia, die Witwe des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, die sich nur äußerst selten aus ihrem Berliner Exil in die Öffentlichkeit wagt, sitzt auch im Publikum. Sie ist eine gute Freundin Ai Weiweis, der sie als Fotografin und Dichterin, vor allem aber als Mensch, der unendlich viel erlitten habe, hoch schätzt. Ai bedankt sich, dass Berlin ihr eine Heimstatt bietet.
Liu Xia selber versteht nichts von dem, was da auf Englisch öffentlich über sie gesprochen wird. Ein anderer prominenter Bürger Berlins aus China ist dagegen nicht anwesend: Der Autor Liao Yiwu, Träger des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, bekommt ordentlich sein Fett weg. Ai Weiwei hält mit seiner Verachtung nicht hinterm Berg: "Liao Yiwu ist jemand, den ich wirklich nicht mag."
Ai Weiwei verschont niemanden mit Kritik, die er für gerechtfertigt hält. Warum waren so wenige Leute bei der Demonstration für Julian Assange? Warum verstehen Deutsche nicht, dass man auch anders denken kann? Weshalb werden sie so wütend, wenn jemand auf dem Fahrradweg läuft? Warum sind so viele rassistisch? Und woher kommt ihre kindische Panda-Verliebtheit? Es gibt noch genügend offene Fragen für weitere Gespräche. Ausreichend Gelegenheit, sich neu Feinde zu machen, wie Ai Weiwei am Ende lächelnd bemerkt.
Zunächst aber will sich der Allroundkünstler auf einem anderen Kunstterrain betätigen: Am Teatro dell'Opera in Rom wird er Giacomo Puccinis Klassiker "Turandot" inszenieren - mit aktuellen Bezügen zu Hongkong.
Ai Weiwei: Manifest ohne Grenzen, aus dem Chinesischen von Eva Schestag unter Mitarbeit von Minya Lin, mit Kalligrafien von Wang Ning, Kursbuch Edition 2019, 183 Seiten.