Genter Altar: Sensationsfund bei Restaurierung
1. Februar 2020Jan van Eycks Genter Altar ist fast 600 Jahre alt. Er ist seit jeher Forschungsgegenstand der Kunsthistoriker und wurde mehrfach restauriert. Man sollte meinen, nach all den Jahren seien alle Geheimnisse dieses Werks gelüftet, das in der Malerei wegen seiner wirklichkeitsgetreuen Darstellungen als revolutionär gilt.
Dass die Annahme weit gefehlt ist, zeigten einmal mehr die Restaurierungsarbeiten der Universität Gent und zahlreicher weiterer Institutionen, die 2012 begonnen und inzwischen vollendet wurden. Im Zuge dessen gab es einen Sensationsfund.
Mehrfach übermalt
Das Lamm, das im Zentrum des Altars steht und Jesus Christus symbolisiert - auch die "Anbetung des Lamm Gottes" genannt - wurde bei früheren Restaurierungen mehrfach übermalt. Und mehr noch: 70 Prozent des Altars zeigten schon lange nicht mehr genau das, was Jan van Eyck und dessen Bruder Hubert zwischen 1426 und 1432 erschaffen hatten. Die Restauratoren trugen Übermalungen aus fünf Jahrhunderten ab - und stießen erstmals auf das originale Lamm van Eycks. Das Überraschende: Es hat etwas Menschliches und scheint mit dem Betrachter zu interagieren.
Till-Holger Borchert, Direktor der Städtischen Museen in Brügge und einer der Kuratoren der Genter Schau "Van Eyck. Eine optische Revolution" bezeichnete den Fund im DW-Gespräch als "spektakulär" und zog die Mona Lisa heran, um die Tragweite der Entdeckung zu veranschaulichen: "Man muss sich vorstellen, dass man sich ständig die Mona Lisa ansieht und plötzlich hat sie einen Bart."
Die Leiterin der Restaurierungsarbeiten, Hélène Dubois, sagte in einem Interview mit "The Art Newspaper": "Für jeden war es ein Schock - für uns, für die Kirche, für alle Forscher und fürs internationale Komitee, welches das Projekt begleitet." Sie nannte die Darstellungsweise "comichaft". Etwas Vergleichbares sei in der frühen niederländischen Malerei bisher nicht entdeckt worden.
Lamm wird im Netz verspottet
Längst ist der menschelnde Lammkopf auch in den Medien und sozialen Netzwerken zum Gesprächsthema geworden - mit teils spöttischen Kommentaren."Hubert und Jan van Eyck konnten naturgetreu Hände malen (das ist kompliziert!), aber keine Lammgesichter... seht selbst", twitterte dieser Nutzerin. Ein anderer User bezeichnete die Restaurierung als "Fehler" und witzelte: "Wer auch immer es übermalte, hatte vollkommen recht." Auch zahlreiche Memes zu dem Lamm kursieren inzwischen im Internet sowie ein Twitter-Account namens "Ghent Mystic Lamb" - Urheber unbekannt.
Der die Malerei revolutionierte
Das Bildnis des Lamms zieht derzeit zweifelsohne die größte Aufmerksamkeit auf sich. Dabei sind die übrigen Ergebnisse der umfänglichen Restaurierung auch durchaus bemerkenswert: Die Farben auf dem Altar sind jetzt wieder kräftig und strahlend. Im wiederhergestellten ursprünglichen Zustand des Meisterwerks offenbaren sich viel mehr Details und eine größere Tiefenwirkung: Gesichter spiegeln den Seelenzustand der Menschen wider, Stoffe und Pelze wirken täuschend echt, Ritterrüstungen blitzen, Juwelen funkeln. Jan van Eyck stellte die Welt im 15. Jahrhundert in einem naturnahen, fast fotografisch genauen Realismus dar. Deshalb gilt er auch als Begründer der neuzeitlichen Malerei.
Verschleppt, versteckt und zerteilt
Die Geschichte des Altars, der aus zwölf riesigen, teilweise doppelseitig bemalten Einzeltafeln besteht, liest sich wie ein Kunstkrimi. Im Laufe der Jahrhunderte wurde er mehrfach zerteilt und verschleppt.
Aufgestellt wurde er 1432, und schon der Maler Albrecht Dürer fand einige Jahrzehnte später nur lobende Worte für das Werk und nannte es "überköstlich". Im 16. Jahrhundert überlebte der Altar den Bildersturm der Calvinisten, die Gottes- und Heiligendarstellungen zu vernichten suchten. 200 Jahre später mussten jene Tafeln, die Adam und Eva abbilden, entfernt werden - angeblich, weil Kaiser Joseph II. ihre Nacktheit als anstößig empfand.
Napoleon beschlagnahmte dann Anfang des 19. Jahrhunderts den Mittelteil des Altars und stellte ihn im Musée Napoléon, dem heutigen Louvre, aus. Nach der Niederlage bei Waterloo kam er wieder zurück nach Gent.
Rettung in letzter Minute
1821 wurde ein großer Teil des Altars legal an den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. nach Berlin verkauft. Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland die Tafeln laut Versailler Vertrag zurückgeben.
Belgien vereinte die Tafeln schließlich wieder in der Genter St.-Bavo-Kathedrale. Doch dort wartete schon das nächste Abenteuer auf den Kunstschatz: 1934 wurden die Tafeln mit dem Bildnis Johannes des Täufers und der "gerechten Richter" entwendet. Letztere ist bis heute verschollen.
Zehn Jahre später führte die Geschichte des Altars in das österreichische Salzbergwerk bei Altaussee. Dorthin verschleppten die Nationalsozialisten Kunstwerke, die für das geplante "Führermuseum" in Linz zwischengelagert werden mussten. Auch Teile des van Eyck-Altars gehörten zu dieser Raubkunst. Nach Kriegsende drohte ihnen die Zerstörung, denn Hitler sah die geraubten Kunstwerke lieber vernichtet als in den Händen der sowjetischen Armee und erteilte noch vor der bevorstehenden Niederlage den Befehl, den Stollen zu sprengen - das Dynamit dafür war bereits an Ort und Stelle. Die Monuments, Fine Arts, and Archives Section der US-Armee, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Schutz von Kulturgütern abgestellt war, vereitelten den Plan noch rechtzeitig. Im Kinofilm "Monuments Men" (2014) wird dieses spannende Kapitel Zeitgeschichte nacherzählt.
Größte van Eyck Schau aller Zeiten
Zum Abschluss der Restaurierungsarbeiten des Genter Altars in diesem Jahr würdigt die Region Flandern Jan van Eyck mit einem Themenjahr: "OMG! Van Eyck was here", lautet das Motto. Den Höhepunkt bildet die Schau "Van Eyck. Eine optische Revolution" im Museum für Schöne Künste Gent (1. Februar bis 30. April). Sie versammelt so viele Werke des Künstlers an einem Ort wie keine Ausstellung je zuvor - zehn von 20; mehr Werke konnten van Eyck nicht zugeordnet werden. Außerdem werden rund 100 Werke aus seinem Atelier, Kopien verlorener Werke und Arbeiten seiner Zeitgenossen aus dem Spätmittelalter präsentiert. Höhepunkt aber ist der restaurierte Genter Altar mitsamt menschelndem Lamm.