Der Sprachexperimentator Jürgen Becker
25. Oktober 2014"Wir ehren ihn nicht nur im Rückblick, sondern auch im Hinblick darauf, dass er immer noch ein außerordentlich produktiver und innovativer Autor ist", so Heinrich Detering, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in einem Gespräch mit der Deutschen Welle. Gerade auf diesen Aspekt hätte die Akademie besonderen Wert gelegt, so Detering. Der 1932 in Köln geborene Becker hat sich noch lange nicht aufs Altenteil zurückgezogen. Er schreibt fleißig weiter.
Avantgardistisches Frühwerk
Und dass er auch noch viel Einfluss ausübt auf Jüngere, dass er also auch "innovativ" ist, wurde bei der Frankfurter Buchmesse gerade noch einmal sehr deutlich. Becker stellte dort ein Buch zweier Germanisten vor, das besonders auf sein Frühwerk eingeht. Das war in den 1960er Jahren vom Zusammenspiel der verschiedenen Künste, Dichtung, Malerei und Collage, bildende Kunst und moderne Musik geprägt. Avantgardistisch und revolutionär, mutig und sperrig waren diese erste Texte Beckers - vieles, was heute als dichterische Avantgarde gilt, wirkt dagegen bieder.
Auch Lutz Seiler, soeben für seinen Roman "Kruso" mit dem Deutschen Buchpreis geehrt, ist, neben anderen nachwachsenden Autoren, ein großer Bewunderer des 30 Jahre älteren Dichters. Wie Becker schrieb auch Seiler lange Zeit vor allem Gedichte, bevor er sich in fortgeschrittenem Alter dem Roman zuwandte. Doch Seiler schätzt Becker gerade als Lyriker, dessen genauen Blick auf die Welt: "Es sind die normalen und konkreten Dinge, an denen die Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer unglaublich treffgenauen, nicht wiederholbaren Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart", schreibt Seiler über den jetzt mit dem Büchner-Preis Geehrten.
Geschichte an den Rändern
Beckers Schreibweise erinnere ihn daran, "wie wir in der Geschichte stehen, bevor sie in die späteren, reflektierten Formen gegossen ist." Genau das mache die besondere Wirkung der Lyrik Beckers aus: "Der Schmerz über Verluste, die Bitterkeit, auch Freude - all das taucht scheinbar beiläufig, absichtslos und unvermittelt in den Gedichten auf, anlässlich einer Postkarte, einer Schubkarre, einer vergessenen Zigarettenmarke." Dass Jürgen Becker Geschichte nicht als Historiker verarbeitet, aber eben auch nicht wie so viele dichtende Zeitgenossen mit großem Gestus und dem Atem des weitausholenden Familien- oder Epochenromans, dass macht ihn so einzigartig.
"Seine Texte zeigen uns die Welt, in der wir leben, auf eine ganz neue Weise", sagt Heinrich Detering. Diesen Blick hat Becker sowohl in seinen frühen experimentellen Texten, als auch in seiner Lyrik und in den späten Prosawerken beibehalten. Becker, ein ungewöhnlich vielseitiger Autor, der Hörspiele verfasste, Bild- und Kunstbände mit Texten begleitete, lange Jahre beim Rundfunk arbeitete und in zwei wichtigen Verlagen an entscheidender Stelle saß, ist ein im besten Sinne unabhängiger Geist, der sich allen literarischen Konventionen stets zu entziehen wusste.
Hoffen auf ein größeres Publikum
Das hat ihm nicht die große Leserschar gebracht, wie so manchem früheren Büchner-Preisträger. Doch Lyrik und experimentelles Schreiben sind nichts für die lesende Masse. Auch daran soll der Preis nach Auffassung von Detering jetzt etwas ändern: "Wenn ein Werk geeignet ist, das verbreitete Misstrauen gegenüber der Lyrik zu beseitigen, sie sei zu anspruchsvoll, zu schwierig, zu unzugänglich, dann ist es Jürgen Becker." Ein größeres Publikum erreichte Becker mit seinen Prosawerken, dem Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" aus dem Jahre 1999 vor allem. Für manche Kritiker war das der eindrucksvollste dichterische Text über die deutsche Wiedervereinigung überhaupt.
Doch ist es grundfalsch zu vermuten, hier sei ein Schriftsteller am Werk, der nach vielen Jahren des lyrischen Schreibens jetzt endlich bereit sei für den klassischen Roman, der ihm dann ein größeres Publikum erschließt. Er habe so ein Buch niemals aus Kalkül schreiben können, erzählte Becker im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, Kalkül sei als Antrieb für das Schreiben völlig ungeeignet. Es sei niemals seine Intention gewesen, Gattungsgrenzen aufzuheben: "Ich gehe nicht mit einem Konzept, mit einem festen Plan an etwas heran, das Konzept entwickelt sich beim Schreiben und die Gattung stellt sich von allein ein", so Becker in einem Interview.
Gesamtdeutsche Geschichte
Becker, der im Alter von Sieben mit seinen Eltern nach Erfurt übersiedelte und zwei Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs wieder nach Westdeutschland kam, hat mit dem Roman "Die Geschichte der Trennungen" auch seine ganz persönliche Deutschland-Reise aufgearbeitet. Bis zur Wende war der Autor nicht mehr in der Gegend seiner Jugendzeit. Erst mit dem Fall der Mauer unternahm Becker zahlreiche Reisen an die Orte seiner Kindheit.
"Du bist ein Idiot, und ich bin noch viel mehr einer, nur lass dir sagen, wir am Rhein werden nie was von der Gegend hier begreifen, wenn wir immer nur ans Mittelmeer fliegen", heißt es an einer Stelle im Roman. Jürgen Becker ist damals in das wiedervereinigte Deutschland gefahren und hat "seine" Geschichte aufgeschrieben. "Dieser Mauerfall und dann die Einheit haben auf mich stark gewirkt", erzählte der Autor später. Erst da sei er sich seiner gesamtdeutschen Geschichte bewusst geworden. Die sei zwar in seinem Kopf vorhanden gewesen, aber erst mit dem "sehr unmittelbaren Erleben" sei es ihm möglich gewesen darüber auch zu schreiben.
Gattungsgrenzen neu vermessen
In der Preisbegründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung heißt es nun, Becker habe "die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich neu vermessen und verändert. Seine Gedichte leben aus einer sensiblen, sinnlichen, neugierigen Weltzugewandtheit und einer vollendeten, dabei ganz unaufdringlichen Sprachkunst." Bei aller bildlichen Brillanz und aller Lust am leuchtenden Detail der umgebenden Natur erkunde sie stets eine von den Spuren der Geschichte und ihrer Katastrophen gezeichneten Landschaft. Jürgen Becker mag mit seinen nunmehr 82 Jahren ein ungewöhnlicher und beim breiteren Lesepublikum wenig bekannter Autor sein, ein würdiger ist er allemal.
Zum Weiterlesen: Anne-Rose Meyer-Eisenhut und Burkhard Meyer-Sickendiek: "Fluxus und/als Literatur - Zum Werk Jürgen Beckers", Verlag edition text + kritik, 978-3-86916-325-3. Beim gleichen Verlag liegt die Zeitschrift für Literatur vor, der Band VII/03 widmet sich dem Werk Beckers. Dort schreibt auch Buchpreisträger Lutz Seiler über den Büchner-Preisträger 2014. Die Auszeichnung wird Jürgen Becker am Samstag (25.10.) im Rahmen der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen.